Vorwort: Worte, die mich leiten
Inspiriert von Menschen die mir oft sagten: „Das musst du aufschreiben!“ und auch von den Worten Charlie Chaplins aus Der große Diktator, habe ich diese Zeilen stellvertretend vorangestellt.
Weil sie, auch 85 Jahre später, genau das ausdrücken, wofür ich stehe und wofür ich diese Geschichte niedergeschrieben habe:
Es tut mir leid, aber ich möchte nunmal kein Herrscher der Welt sein, das liegt mir nicht. Ich möchte weder herrschen noch irgendwen erobern, sondern jedem Menschen helfen, wo immer ich kann. Den Juden, den Heiden, den Farbigen, den Weißen.
Jeder Mensch sollte dem Anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt! Wir sollten am Glück des Anderen teilhaben und nicht einander verabscheuen. Hass und Verachtung bringen uns niemals näher! Auf dieser Welt ist Platz genug für jeden und Mutter Erde ist reich genug, um jeden von uns satt zu machen.
Das Leben kann ja so erfreulich und wunderbar sein, wir müssen es nur wieder zu leben lernen! Die Habgier hat das Gute im Menschen verschüttet und Missgunst hat die Seelen vergiftet und uns im Paradeschritt zu Verderb und Blutschuld geführt. Wir haben die Geschwindigkeit entwickelt, aber innerlich sind wir stehen geblieben. Wir lassen Maschinen für uns arbeiten, und sie denken auch für uns. Die Klugheit hat uns hochmütig werden lassen und unser Wissen kalt und hart, wir sprechen zu viel und fühlen zu wenig, aber zuerst kommt die Menschlichkeit und dann die Maschinen! Vor Klugheit und Wissen kommt Toleranz und Güte! Ohne Menschlichkeit und Nächstenliebe ist unser Dasein nicht lebenswert!
Internet und Social Media haben uns einander näher gebracht, diese Erfindungen haben eine Brücke geschlagen von Mensch zu Mensch, sie erfordern eine umfassende Brüderlichkeit, damit wir alle eins werden. Millionen Menschen auf der Welt können im Augenblick meine Stimme hören, Millionen verzweifelte Menschen, Opfer eines Systems, das es sich zur Aufgabe gemacht hat Unschuldige zu quälen und in Ketten zu legen. Allen denen, die mich jetzt hören, rufe ich zu: Ihr dürft nicht verzagen! Auch das bittere Leid, das über uns gekommen ist, ist vergänglich! Die Männer, die heute die Menschlichkeit mit Füßen treten, werden nicht immer da sein, ihre Grausamkeit stirbt mit ihnen und auch ihr Hass! Die Freiheit, die sie den Menschen genommen haben, wird ihnen dann zurückgegeben werden. Auch wenn es Blut und Tränen kostet, für die Freiheit ist kein Opfer zu groß!
Polizisten! Vertraut euch nicht Barbaren an, Unmenschen, die die Menschlichkeit verachten und denen euer Leben nichts wert ist, ihr seid für sie nur Marrionetten! Ihr habt das zu tun, das zu fühlen, das zu glauben! Ihr werdet gedrillt, gefüttert, wie Vieh behandelt und seid nichts weiter als Kanonenfutter. Ihr seid viel zu schade für diese verirrten Subjekte! Diese Maschinenmenschen, mit Maschinenköpfen und Maschinenherzen! Ihr seid keine Roboter, ihr seid keine Tiere, ihr seid Menschen! Bewahrt euch die Menschlichkeit in euren Herzen und hasst nicht! Nur wer nicht geliebt wird hasst! Nur wer nicht geliebt wird! Polizisten und Behörden, kämpft nicht für die Unterdrückung total Überwachung! Kämpft für die Freiheit für die Gerechtigkeit!
Im 17. Kapitel des Evangelisten Lukas steht: Gott wohnt in jedem Menschen. Also nicht nur in einem oder einer Gruppe von Menschen. Vergesst nie: Gott lebt in euch allen und ihr als Volk habt allein die Macht! Die Macht zu Unterdrücken, aber auch die Macht Glück zu spenden! Ihr als Volk habt es in der Hand, dieses Leben einmalig kostbar zu machen, es mit wunderbarem Freiheitsgeist zu durchdringen! Daher: Im Namen der Demokratie! Lasst uns diese Macht nutzen! Lasst uns zusammenstehen! Lasst uns kämpfen für eine neue Welt, für eine anständige Welt! Für eine Bessere Welt! Die jedermann gleiche Chancen gibt, die der Jugend eine Zukunft und den Alten Sicherheit gewährt. Versprochen haben die Unterdrücker das auch, deshalb konnten sie die Macht ergreifen. Das war Lüge, wie überhaupt alles was sie euch versprachen! Diese Verbrecher! Diktatoren und Demagogen wollen die Freiheit nur für sich, das Volk soll versklavt bleiben! Lasst uns diese Ketten sprengen, lasst uns kämpfen für eine bessere Welt! Lasst uns kämpfen für die Freiheit in der Welt! Das ist ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Nieder mit der Unterdrückung, dem Hass und der Intoleranz! Lasst uns kämpfen für eine Welt der Freiheit, in der die Vernunft siegt, in der Fortschritt und Wissenschaft uns allen zum Segen gereichen. Kameraden! Im Namen der Demokratie! Dafür lasst uns streiten!
Prolog
Dies ist keine Heldengeschichte.
Keine Geschichte von Siegen, Erfolgen und Triumphen.
Es ist die Geschichte von Schmerz, Kampf, Demütigung — und dem ständigen Versuch, Mensch zu bleiben in einem System, das oft unmenschlich handelt.
Ich heiße Marcus K.
Dies ist mein Leben.
Kapitel 1 – Geburt ins Leiden (Die Kopf-Kinn-Kappe)
Es heißt, das Leben beginnt mit einem Schrei. Bei mir begann es mit zweien: meinem eigenen – und dem meiner Mutter, als sie erfuhr, dass meine Zwillingsschwester es nicht geschafft hatte.
Ich war wenige Minuten alt und schon mitten in einem Drama, das mich mein ganzes Leben begleiten sollte. Zwei Kinder sollten es werden. Zwei kleine Leben, die zusammen diese Welt entdecken. Doch es wurde nur eines. Ich. Und ich war von Anfang an gezeichnet. Ein Überlebender im Kreißsaal.
Die Ärzte nannten es ein Wunder, dass ich es geschafft habe. Aber Wunder haben ihren Preis. Mein Körper war von Anfang an ein Käfig. Spastiken begleiteten mich von klein auf. Muskeltonusstörungen, die sich wie unsichtbare Ketten um meine Glieder legten. Und dann: dieser Kiefer.
Mein Gesicht wuchs schief. Der Oberkiefer blieb zurück, als hätte er Angst, zu sehr in diese Welt zu ragen. Dafür meinte der Unterkiefer, er müsste das, was der Oberkiefer nicht leistete, gleich doppelt übernehmen und drängte sich nach vorn. Schon früh war klar: Das würde später einmal eine sehr lange, sehr schmerzhafte Geschichte werden.
Doch noch war ich ein Kind. Ein kleines, das einfach nur dazugehören wollte. Aber die Welt hatte andere Pläne. Schon im Kindergarten war ich „anders“. Die anderen Kinder rannten, sprangen, turnten, während ich oft einfach nur dastand und zusah. Nicht, weil ich nicht wollte, sondern weil mein Körper nicht konnte.
Und dann kam sie: die Kopf-Kinn-Kappe. Dieses merkwürdige Ding, eine Mischung aus Stoff, Leder, Metall und Druck. Sie wurde mir nachts aufgesetzt, um das Wachstum meines Kiefers zu korrigieren, um den Oberkiefer nach vorne zu holen, den Unterkiefer zu bremsen, das Gesicht zu „normalisieren“. Man nannte es Behandlung. Für mich war es eher ein ständiges Gefängnis.
Es gab verschiedene Modelle: weiche, mit Polsterung, und harte, starre Versionen, die keine Bewegung mehr zuließen. Besonders nachts wurde sie zur Qual. Jede Drehung im Bett konnte dazu führen, dass ich am Kopfkissen hängen blieb, das Kinn eingeklemmt wurde, ich hochschreckte, zerrte, drückte. Schlaf war kein Schlaf. Es war ein Kampf ums Durchhalten bis zum Morgengrauen. Jede Nacht zog sich endlos, jeder Morgen kam zu spät.
Ich erinnere mich, wie ich nachts wach lag, starr in die Dunkelheit starrte und das Rucken und Ziehen der Kappe ertrug, während die Tränen langsam über meine Wangen liefen. Nicht, weil ich jammern wollte. Sondern weil ich nicht mehr konnte.
Tagsüber war es auch nicht besser. Ich sah anders aus. Mein Gang war anders. Meine Bewegungen waren anders. Und Kinder merken so etwas. Sie starren. Sie tuscheln. Manchmal zeigen sie mit dem Finger, manchmal lachen sie. Und manchmal sind Blicke schlimmer als Worte.
So lernte ich sehr früh: Ich bin nicht wie die anderen. Ich gehöre nicht dazu. Ich bin der mit dem schiefen Gesicht, der, der komisch läuft, der, der diese komische Kappe tragen muss. Die Welt machte mir von klein auf klar, wo mein Platz ist: am Rand.
Schließlich gaben die Ärzte auf. Die Kappe verschwand, aber nicht, weil ich geheilt war, sondern weil die Belastung einfach zu hoch wurde. Die Schulkämpfe, die Hänseleien, die Ängste – alles zusammen war irgendwann mehr, als man einem Kind noch zumuten konnte. Also ließen sie es bleiben. Doch die Korrektur war gescheitert. Der Kiefer blieb, wie er war. Und die Erinnerung an diese Nächte — sie blieben auch.
Ich lernte früh, was es bedeutet, gegen den eigenen Körper kämpfen zu müssen. Und ich lernte früh, wie schmerzhaft „Hilfe“ sein kann, wenn sie den Menschen nicht sieht, sondern nur den Defekt.
Es war nur der Anfang.
Kapitel 2 – Mein erster Freund: Die Technik
Es war ein ganz gewöhnlicher Nachmittag, eigentlich nichts Besonderes. Ich war vielleicht vier oder fünf Jahre alt, und doch war es einer dieser Momente, die das ganze Leben heimlich auf eine neue Spur schieben.
Wir waren zu Besuch beim Nachbarn. In seinem Wohnzimmer stand er: ein Atari 2600. Ein Kasten, der für mich aussah wie eine Maschine aus einer anderen Welt. Klobig, kantig, mit einem merkwürdigen Joystick, der fast größer war als meine Hände. Aber auf dem Bildschirm bewegte sich etwas. Und: ich konnte es steuern.
Ich hatte Mühe. Meine Bewegungen waren ungelenk, die Spastik ließ meine Hände zuckend und ungenau agieren. Doch es war egal. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl: Die Welt dort im Bildschirm hörte auf mich. Sie gehorchte mir. Wackelig, unpräzise, aber immerhin. Ich war nicht der Außenseiter, nicht der, auf den die anderen Kinder zeigten, nicht der Junge mit dem schiefen Kiefer. Ich war der, der spielt.
Mein Vater stand still im Türrahmen und schaute mir zu. Er sagte nichts, aber ich spürte seinen Blick. Vielleicht war es Stolz, vielleicht war es zum ersten Mal so etwas wie Hoffnung. Er sah, dass ich mich nicht aufgab. Dass ich, obwohl mein Körper mich so oft im Stich ließ, doch Wege fand.
Nicht lange danach kam der nächste Schritt: Mein Vater kaufte einen Amiga 500. Kein Geschenk im klassischen Sinne. Keine Überraschung zu Weihnachten. Nein – er wusste, was er tat. Er hatte erkannt, dass in diesen Geräten für mich eine Welt lag, in der ich funktionieren konnte. Eine Welt, die mich nicht auslachte, wenn meine Bewegungen stockten. Eine Welt, die mir Zeit ließ. Die nicht urteilte.
Und dieser Amiga wurde mein erster richtiger Freund. Nicht irgendein lebloser Kasten – sondern eine Tür in ein Paralleluniversum, in dem meine Spastik und meine Andersartigkeit plötzlich keine Rolle mehr spielten.
Ich lernte. Ich spielte. Ich übte. Spiele wie Monkey Island, Populous, Robocop, Nebulus, Crazy Cars oder Toki wurden zu meinem Training. Andere Kinder sahen darin bloß Spielerei. Für mich war es viel mehr: Es war Motorik-Therapie, Konzentrationsübung und Fluchtpunkt zugleich.
Bei jedem Mausklick, jedem Sprung im Spiel, jedem gelösten Rätsel kämpfte ich gleichzeitig gegen meine eigenen Hände. Ich zwang die Muskeln, die sich sträubten, zu gehorchen. Und jedes Mal, wenn ich ein Level schaffte, war das mehr als ein Erfolg im Spiel. Es war ein Sieg über meinen Körper.
Monkey Island war dabei besonders wichtig. Nicht nur wegen der lustigen Piraten und der skurrilen Dialoge – sondern wegen der Texte. Ich musste lesen. Immer wieder. Und obwohl das Schreiben für mich beinahe unmöglich war, weil ich kaum einen Stift richtig halten konnte, zwang mich das Lesen dazu, nicht völlig abgehängt zu werden.
Ich saugte die Texte auf, las sie immer wieder, verstand sie irgendwann beinahe automatisch. Mein Wortschatz wuchs, mein Verständnis wuchs, mein Selbstvertrauen wuchs – und sei es nur ein kleines bisschen.
So wurde aus einem zufälligen Nachmittag beim Nachbarn ein Wendepunkt. Eine dieser leisen Weichenstellungen, die man erst viele Jahre später richtig versteht.
Die Welt draußen war voller Unsicherheit, voller Stolpersteine und schiefer Blicke. Doch hier, vor dem Bildschirm, mit meinen Maschinen, gehörte ich mir selbst.
Und vielleicht war das der erste Moment, in dem ich spürte:
Ich bin nicht nur der Junge mit der Krankheit.
Ich bin auch jemand, der etwas kann.
Kapitel 3 – Zwischen Schulbank und zwei Welten
Die Grundschule in Rüsselsheim – für viele Kinder war sie der Start in das Abenteuer Lernen. Freundschaften, Pausenhoflachen, kleine Streitereien, erste Schularbeiten. Für mich aber war sie vor allem eines: ein täglicher Kampf.
Schon der Anfang war hart. Schreibenlernen – für andere Kinder ein Abenteuer, für mich ein Kraftakt. Ich konnte den Stift kaum halten. Die Spastik trieb meine Finger in alle Richtungen, ließ sie zucken, verkrampfen, zittern. Jeder Buchstabe, den ich aufs Papier zwang, war eine kleine Schlacht. Buchstaben, die bei den anderen flüssig über das Papier glitten, wurden bei mir zu harten, verkrampften Zeichen, als müsste ich sie aus dem Papier herausmeißeln. Oft brach die Bleistiftspitze ab, weil ich zu sehr drückte. Manchmal gleich mehrfach bei einem einzigen Wort. Das Heft war voller Druckstellen, zerknittert, zerschmiert. Und ich? Am Ende war ich erschöpft, den Tränen nahe, während die anderen längst fröhlich die nächste Aufgabe erledigten.
Die Lehrerin sah das, aber sie verstand es nicht. Oder wollte es nicht verstehen. Statt Hilfe kam Druck. Und als wäre das nicht genug, schaffte sie es über Jahre nicht einmal, meinen Namen richtig zu schreiben. Immer wieder „Markus“ – mit „k“. Immer wieder der kleine Stich: „Du bist nicht wichtig genug, um dich richtig zu benennen.“ Irgendwann platzte es meinem Vater heraus. Er ging zur Schule, sprach mit ihr. Aber auch danach schien es ihr gleichgültig. Ich blieb eben „der Markus“, der merkwürdige Junge mit der schiefen Schrift, dem schiefen Gesicht und dem schiefen Gang.
Und die Mitschüler? Die Kinder rochen meine Schwäche. Sie mussten es nicht einmal bewusst tun. Kinder spüren sehr genau, wer anders ist. Und ich war anders. Mein Körper war steif, meine Bewegungen ungelenk. Ich lief wie jemand, der nie richtig gelernt hatte, wie man läuft. Mein Gesicht war schief, mein Lächeln schief, mein Reden nicht immer ganz klar. Ich passte einfach nicht ins Bild des „normalen“ Kindes.
Die Hänseleien begannen leise, wurden schnell lauter. Flüstern hinter meinem Rücken. Kichern, wenn ich auf dem Pausenhof stolperte. Der eine kleine Stoß, wenn ich an der Treppe vorbeiging. Und dann gab es diese Momente, die ich nie vergessen werde – Momente, in denen ich völlig bloßgestellt wurde. Wie damals nach dem Schwimmen, als plötzlich meine komplette Kleidung verschwunden war. Ich stand frierend und gedemütigt da, während meine Mitschüler lachten. Es war geplant, es war Bosheit pur. Und ich stand allein.
Doch nach der Schule trennten sich die Welten.
An manchen Tagen holte mich meine Oma mütterlicherseits ab. Und bei ihr war alles anders. Ihre Umarmung war wie eine warme Decke.
„Bub, da biste ja! Erstmal Götterspeise, dann essen wir zusammen.“
Sie wusste, wie man mich beruhigt. Nach dem Essen machten wir Hausaufgaben. Geduldig. Nie schimpfend, selbst wenn ich Fehler machte. Und wenn alles geschafft war, spielten wir Karten. Mal gewann ich, mal sie – aber immer war es fair. Oma schenkte mir das, was ich sonst so selten bekam: Geborgenheit, Verständnis, Liebe.
Doch nicht immer hatte ich dieses Glück. An anderen Tagen musste ich zu den Großeltern väterlicherseits. Und dort herrschte nur Kälte.
Mein Großvater war wie Stein. Kalt, hart, unnachgiebig. Kein freundliches Wort, kein Lächeln, kein Lob. Ich hatte Angst, überhaupt zu atmen, geschweige denn Fehler zu machen. Ein schiefer Buchstabe reichte, und die Seite wurde herausgerissen: „Nochmal.“
Fehler bedeuteten Hunger. Essen gab es erst, wenn alles fehlerfrei war. Und so saß ich manchmal stumm und mit knurrendem Magen da, bis ich endlich abgeholt wurde.
So verlief mein Leben zwischen diesen zwei Extremen.
Die Schule war ein einziger Überlebenskampf.
Die Nachmittage mal Geborgenheit, mal emotionale Kälte.
Und ich spürte früh:
Irgendwann will ich einen Ort, der nur mir gehört. Einen Ort, wo ich einfach nur ich sein darf.
Kapitel 4 – Neue Wege, alte Schatten: Worfelden
1993 zogen wir um. Raus aus Rüsselsheim, hinein ins beschaulichere Worfelden. Ein neuer Ort, ein neues Haus, ein eigenes Zimmer. Für einen Moment fühlte es sich an wie ein Neuanfang. Vielleicht, dachte ich, wird jetzt alles leichter. Vielleicht kann ich hier die Vergangenheit hinter mir lassen.
Die Schule lag jetzt in Weiterstadt, nur wenige Kilometer entfernt. In den ersten beiden Jahren war noch alles offen. Es gab noch keine Trennung in Hauptschule, Realschule oder Gymnasium. Für einen kurzen Moment lag so etwas wie Hoffnung in der Luft. Vielleicht, so dachte ich, kann ich hier einfach nur Kind sein. Vielleicht, für einmal, gehöre ich dazu.
Und tatsächlich: Die Lehrer waren freundlich, einige Mitschüler neugierig, sogar hilfsbereit. Ich spürte die neue Chance. Aber die Vergangenheit klebte an mir wie Pech. Meine schiefen Bewegungen, meine Sprache, mein Gesicht – ich nahm mich überallhin mit. Schon nach wenigen Wochen spürte ich wieder die Blicke. Leise Kommentare, flüchtige Gesten, kleine Grüppchen, die sich bildeten, ohne dass ich dazugehören durfte.
Ich merkte schnell: Die Gruppenbildung kam wieder in Gang. Die Kinder sortierten sich. Wer cool war, wer lustig war, wer sportlich war – und wer eben nicht. Ich landete wieder am Rand.
Und dann kam sie, die Entscheidung, die mein Leben wieder ein Stück enger machte: die Schullaufbahn-Empfehlung. Für viele nur ein Blatt Papier. Für mich das nächste Urteil. Ich rutschte in die Hauptschule.
Hauptschule – das hieß schon damals: Hier landen nicht die, die Glück hatten. Hier landen die, die das System schon früh aussortiert. Und vor allem: Hier landen die, die gelernt haben, dass auf Schwäche nicht Rücksicht genommen wird.
Die alten Ängste kehrten zurück. Und es wurde schlimmer.
In Worfelden selbst versuchte ich mir ein Stück Normalität zu basteln. Nachmittags fuhr ich oft mit dem Fahrrad zurück nach Rüsselsheim, zurück zu den wenigen Freunden, die mir geblieben waren. Dort, im kleinen Wäldchen hinter den Häusern, traf ich sie: einige meiner alten Bekannten, aber auch Ältere. Coolere. Die, zu denen man aufschaut, wenn man selbst nie dazugehört hat.
Hier war ich nicht „der mit dem schiefen Gesicht“. Hier war ich einfach nur Marcus. Wir saßen zusammen, redeten, rauchten manchmal. Und irgendwann, fast beiläufig, reichte mir jemand einen *beep*.
Es war kein großer Moment. Kein „Einstieg in die Dro.“, wie es später in Akten stehen sollte. Es war einfach nur: dazugehören dürfen.
Der Rauch schmeckte komisch. Doch nach wenigen Zügen spürte ich etwas, das ich bis dahin kaum kannte: Ruhe. Frieden. Schmerzfreiheit. Nicht nur körperlich, auch innerlich. Für einen kurzen Moment war da keine Angst. Kein Schmerz in den Muskeln. Kein Kloß im Magen. Keine Panik in der Brust.
Es dauerte nur eine Stunde. Vielleicht zwei. Dann kam alles zurück. Doch ich hatte etwas entdeckt: Es gibt einen Zustand, in dem die Welt für einen Moment erträglich wird. Und in den kommenden Jahren sollte ich diesen Zustand immer wieder suchen.
Zurück in der Schule in Weiterstadt wurde der Ton rauer.
Die Hauptschule war brutal. Nicht unbedingt wegen der Lehrer – sondern wegen der Kinder. Es war ein Haifischbecken. Hier galt das Recht des Stärkeren. Hier hatten viele selbst schon Gewalt erlebt – und sie gaben sie weiter.
Ich war anders, verletzlicher, auffälliger. Und so war ich wieder Zielscheibe.
Es waren nicht nur einzelne Täter. Oft waren es Gruppen. Und es spielte keine Rolle, woher sie kamen. Ob „Bio-Deutsche“, ob mit Migrationshintergrund – Gewalt verbindet manchmal die, die sich selbst schon aufgegeben haben.
Die Angriffe waren unterschiedlich:
Mal körperlich — Stoßen, Schubsen, Schlagen.
Mal psychisch — Demütigungen, Hänseleien, Ausgrenzung.
Mal feige — heimlich versteckte Schulmaterialien, entwendete Kleidung.
Schulweg und Pausen wurden zum Spießrutenlauf. Man lernte, immer den nächsten Schlag zu erwarten. Immer zu ahnen, aus welcher Ecke der nächste Angriff kam. Und schlimmer: Die Lehrer sahen vieles. Doch oft griff niemand wirklich ein.
Und so wurde der Pausenhof zu einer Arena. Die Schule kein Ort des Lernens, sondern des Überlebens.
Nachmittags flüchtete ich wieder in meine kleine eigene Welt.
Der Keller bei meinen Eltern war mein Rückzugsort.
Hier stand mein Computer.Hier war mein Zufluchtsort.Mein sicherer Raum.
Während draußen meine Mitschüler stärker, brutaler, älter wurden, kämpfte ich in meinen Spielen gegen virtuelle Gegner. Monkey Island, Doom, Toki, Robocop. Hier konnte ich gewinnen. Hier kontrollierte ich, was passiert. Hier war ich nicht der Außenseiter.
Und der Canna.? Er blieb mein kleines, dunkles Geheimnis. Mein Fluchthelfer, wenn der Druck zu groß wurde. Wenn die Gedanken zu laut wurden. Wenn der Körper schmerzte. Wenn die Angst mich auffraß.
Irgendwann begriff ich:
Die Hauptschule war nie ein Ort, um zu lernen.
Sie war ein Ort, um nicht unterzugehen.
Kapitel 5 – Die erste Eskalation: Hausdurchsuchung und Absturz
Es war irgendwann in der achten Klasse, als sich mein Leben auf eine Weise verdichtete, die ich damals nicht mal ansatzweise verstand. Die Gewalt auf dem Schulhof nahm immer weiter zu. Ich lebte längst im reinen Überlebensmodus. Aber wenigstens hatte ich meinen Keller. Meinen Rückzugsort. Meinen Computer.
Und meinen kleinen Schwarzmarkt. Nicht für Geld. Nicht für Ruhm. Sondern, um dazuzugehören.
Ich hatte, was andere wollten: einen CD-Brenner, Internetzugang — damals in den Neunzigern ein seltener Schatz. Ich verstand Technik, konnte kopieren, Spiele besorgen, Systeme aufsetzen. Und ich verstand früh, wie man Disketten flickt, Daten rettet, alte Rechner repariert. Das verschaffte mir Respekt. Zumindest vorübergehend.
Die „coolen Spiele“ jener Zeit — Doom, Quake, Duke Nukem — waren damals mehr als nur Spiele. Sie waren Eintrittskarten zu den Gesprächsrunden in den Pausen. Wer sie hatte, war für einen Moment Teil des inneren Kreises.
Und so kam der Tag, an dem ein Mitschüler mich fragte, ob ich ihm eine CD brennen könne.
Ich tat es. Natürlich. Weil ich dazugehören wollte. Weil ich endlich einmal nicht der Außenseiter sein wollte.
Wenig später kam die Polizei.
Der Morgen war kalt und dunkel. Ich erinnere mich an das schwere Klopfen an der Tür.
Viel zu früh. Laute Stimmen. Uniformen. Durchsuchungsbefehl.
Ich stand da, blass, verängstigt, viel zu jung für das, was gerade geschah. Die Polizisten trugen Kisten voller Technik aus dem Haus. Meinen Computer. Meine CDs. Mein ganzes Heiligtum.
Mein Keller — mein einziger sicherer Ort — wurde auseinandergenommen.
Für die Polizei war es Routine: Urheberrechtsverletzung, Raubkopien, Jugendschutz.
Für mich war es der vollständige Zusammenbruch meiner kleinen Welt.
Plötzlich war ich nicht mehr nur der Außenseiter.
Jetzt war ich auch der Kriminelle. Der Problemfall.
Es dauerte nur Tage, bis sich alles in der Schule herumgesprochen hatte. Die Mitschüler tuschelten. Lehrer schauten anders. Einige Eltern verboten ihren Kindern, mit mir zu sprechen. Ich war gebrandmarkt. Noch mehr Außenseiter als je zuvor.
Meine Eltern waren überfordert. Wütend. Ratlos. Hilflos.
Und ich?
Ich zog mich noch weiter zurück. Schloss mich im Keller ein.
Flüchtete noch mehr in die wenigen Dinge, die mir noch Halt gaben.
Der Alk. kam dazu.
Was zuerst nur auf Partys begann, wurde schnell mehr.
Morgens vor der Schule ein Schluck.
Am Wochenende ganze Flaschen.
Es war nicht der Rausch, den ich suchte.
Es war die Taubheit. Die Betäubung.
Alles wurde dumpfer, gleichgültiger, leiser.
Und gleichzeitig: zerstörerischer.
Der letzte Schultag der Hauptschule war eine einzige Farce.
Abschlussfeier in der Aula.
Fröhliche Gesichter.
Lachende Mitschüler.
Stolze Eltern.
Und ich?
Ich war sturzbetrunken.
Bereits morgens hatte ich angefangen zu trinken, um den Tag zu überstehen. Ich wollte diese Farce nicht nüchtern erleben müssen. Während die anderen Urkunden entgegennahmen, schwankte ich auf meinem Stuhl, sah alles verschwommen und hatte längst aufgegeben, noch irgendetwas an mir oder der Welt zu retten.
Es war kein Feiern. Es war ein stilles Ertrinken. Im Alk.. Im Schmerz. Im völligen Zerbruch.
Mit dem Ende der Hauptschule war nicht etwa eine Last abgefallen.
Es war eher so, als sei ich endgültig durch den letzten noch verbliebenen Boden gefallen.
Ich stand am Rand eines Abgrunds, in den ich langsam, aber unaufhaltsam hineinrutschte.
Und niemand hielt mich fest.
Kapitel 6 – Zwischen Ideologien, Sehnsucht und Abgründen
Nach dem Abschluss an der Hauptschule war ich leer.
Ausgebrannt.
Zerfressen von Demütigungen.
Ohne Ziel. Ohne Richtung. Ohne wirklichen Halt.
Die Berufsfachschule schien erst einmal ein kleiner Neuanfang.
Ein anderer Ort, neue Gesichter.
Und doch nahm ich mich selbst überallhin mit.
Meine Geschichte. Meine Angst. Mein Anderssein.
Die Mitschüler waren älter. Viele hatten ebenfalls ihre Vorgeschichten. Und doch: Ich blieb der Außenseiter.
Vielleicht nicht mehr ganz so extrem wie auf der Hauptschule, aber die Schublade war schnell wieder gefunden: Der Komische. Der Ruhige. Der, der anders redet, anders läuft, anders denkt.
Nur diesmal war es nicht mehr nur das Mobbing durch einzelne Mitschüler.
Es war der innere Zerfall, der jetzt in mir selbst tobte.
Die Enttäuschung, die Wut, der Schmerz — sie suchten sich ein Ventil. Und sie fanden eines.
Es war kein bewusster Schritt.
Kein großer Schwur. Keine feste Überzeugung. Es war einfach… ein Abdriften.
Ich rutschte in rechte Kreise.
In eine Szene, die mir das gab, was ich so verzweifelt suchte:
Zugehörigkeit. Schutz.Stärke.
Nach all den Jahren, in denen ich Prügel einstecken musste, verspottet und gedemütigt wurde — oft von Mitschülern mit Migrationshintergrund — war es fast eine zynische Logik, dass ausgerechnet diese Gruppen jetzt zur Projektionsfläche meines Hasses wurden.
Aber ehrlich:
Ich war nie wirklich überzeugt. Es war nie Ideologie. Es war reiner Selbstschutz.
Die Parolen, die Musik, die martialische Sprache gaben mir das Gefühl, endlich auf der „starken Seite“ zu stehen.
Endlich einmal nicht das Opfer sein.
Und doch wusste ich tief in mir:
Das ist nicht richtig. Das heilt nichts. Es füllt nur die Leere für den Moment.
Die Szene war brutal, laut, primitiv.
Aber sie gab Zusammenhalt.
Und wenn man so lange ausgestoßen war wie ich, dann greift man nach jedem Ast, den man greifen kann.
Canna.?
In dieser Szene streng verboten.
Es galt als Schwäche, als „Dreck der Hippies“. Wer *beep*, flog.
Und so ersetzte ich den Canna. dieser Jahre vorübergehend durch andere Fluchten.
Alk. war erlaubt. Alk. war sogar Teil des Ganzen.
Nächte in Kellerwohnungen, Diskussionen über „Vaterland“, Feindbilder, Stärke, Verrat, Loyalität. Und immer wieder das Gefühl:
Hier schützt man sich. Hier kämpft man „für seine Brüder“.
Hier kann ich endlich Teil von etwas sein.
Doch die Fassade bröckelte früh.
Schon 1999, kaum ein Jahr später, wurde mir klar:
Diese Szene heilte nichts. Sie ersetzte nur Schmerz durch neuen Hass.Ich sah, wie blind diese Menschen waren. Wie sehr sie sich selbst betrogen. Wie wenig sie wirklich verstanden — weder von der Welt noch von sich selbst.
Ich begann mich zu lösen.
Es war nicht einfach.
Die Szene lässt einen nicht gerne gehen.
Aber ich war nie tief genug verstrickt, um erpresst zu werden.
Ich zog mich leise zurück. Immer mehr. Immer öfter war ich einfach… nicht mehr da.
Und irgendwann war ich raus.
Meine Eltern bekamen von all dem kaum etwas mit.
Zu Hause war ich sowieso nur noch selten.
Ich schlief oft bei Freunden, in Kellern, auf Sofas.
Meine Eltern sahen in mir längst nur noch ein Problem, mit dem sie kaum noch umzugehen wussten.
Es war kein Streit, keine große Explosion. Eher ein schleichendes Auseinanderdriften.
Ich war 16, 17, 18 Jahre alt und lebte faktisch ohne Zuhause.
Das Einzige, was mir in dieser Zeit geblieben war, war der Alk..
Und ein immer dunkler werdendes Loch in meiner Seele.
Wenn ich heute zurückblicke, begreife ich, wie gefährlich nah ich damals an einem völligen Absturz stand.
Ich war nur einen einzigen falschen Freund, eine einzige falsche Entscheidung davon entfernt, völlig verloren zu gehen.
Doch irgendwie… irgendwie hielt mich etwas.
Vielleicht ein letzter Rest von Gewissen.
Vielleicht die Erinnerung an meine Oma.
Vielleicht meine Liebe zur Technik.
Vielleicht einfach nur Glück.
Aber ich fiel nicht vollständig.
Noch nicht.
Canna. – Medizin, Stigma, Schikane
Es gab eine Zeit, da war Canna. für mich nichts weiter als ein Mittel, um dazuzugehören, um die innere Unruhe leiser zu machen. Aber nach den Unfällen, nach den Nächten, in denen der Schmerz kein Ende nahm, war es mehr als das: Es war Medizin. Keine Heilung – aber Linderung.
Ich weiß, wie leicht sich das sagt, und wie schnell dann die Gegenargumente kommen: Sucht, Abhängigkeit, Kontrollverlust. Die alte Leier von der „Einstiegsdroge“, vom „Junkie“. Aber für mich war es oft das Einzige, was funktionierte, wenn nichts anderes half.
Die Ärzte haben das nie sehen wollen. Sie schauten in die Akte, lasen „Canna.“ – und hatten ihr Urteil längst gefällt. Einmal „Dro.“, immer „Süchtiger“. Egal, ob ich erklärte, wie sehr es half. Egal, wie viele Medikamente ich zuvor schon probiert hatte.
Nie interessierte jemanden die andere Seite: Dass der Schmerz, der mich jede Nacht wachhielt, mit Canna. wenigstens für ein paar Stunden erträglich wurde. Dass die Spastik nachließ. Dass die Angst und die Flashbacks wenigstens einen Dämpfer bekamen.
Stattdessen: Schikane. Führerschein weg. Immer neue Gutachten, immer neue Vorladungen. Bei jedem Arztbesuch der gleiche Blick – „Ach, der *beep*…“.
Niemand fragte, wie viel weniger ich leiden musste. Niemand fragte, wie viel mehr Lebensqualität das brachte. Für das System war ich einfach ein weiteres Problem, das es zu verwalten galt. Nicht ein Mensch, der Hilfe suchte.
Ich habe die Risiken gekannt, ja. Ich habe gelernt, damit umzugehen, Grenzen zu ziehen, nicht alles zu glauben, was der Rausch verspricht. Aber vieles von dem, was in meinem Leben eskaliert ist, hätte nie so kommen müssen, wenn der Staat nicht immer nur Strafe und Verfolgung als Antwort auf alles kannte.
Vielleicht hätten viele meiner Abgründe verhindert werden können, wenn ich einfach die Hilfe bekommen hätte, die ich gebraucht hätte. Ohne Stigma. Ohne Schikanen. Ohne Angst davor, für den Versuch, mit dem eigenen Schmerz klarzukommen, auch noch kriminalisiert zu werden.
Kapitel 7 – Uniform, Kulturschock und innerer Krieg
Nach dem Ende der Berufsfachschule stand ich wieder an einer Schwelle.
Die Schule war vorbei, aber mein Leben lag weiter in Trümmern. Keine Ausbildung, kein Job, keine klare Richtung. Ich wusste nur: So wie es war, konnte es nicht weitergehen.
Und also wählte ich einen Weg, den viele in meiner Lage wählten: Die Bundeswehr.
Vielleicht, dachte ich, wäre das endlich der Ort, an dem Leistung zählte. Wo nicht meine Vergangenheit zählte, nicht die Narben in meiner Seele, nicht die Mobbingerfahrungen, nicht meine verkrampften Hände.
Ein Ort, an dem nur wichtig wäre, ob ich durchhalte.
Schon bei der Musterung war klar: Mein Körper war nicht wirklich geeignet für diesen Dienst. Die Ärzte sahen meine Spastik, meine Haltung, die lange Krankengeschichte. Ausgemustert zu werden – es wäre der logische, der einfache Weg gewesen.
Doch ich wollte es anders.
Ich wollte kämpfen, wenigstens einmal nicht fliehen.
Nicht wegrennen vor mir selbst.
Also trat ich den Grundwehrdienst an. Ich kämpfte mich durch die Grundausbildung – durch Dreck, Schweiß, endlose Märsche.
Der Drill war hart.
Mein Körper streikte oft, mein Rücken schmerzte, meine Muskeln verkrampften.
Ich war nicht schnell, nicht beweglich, nicht kräftig. Aber ich war stur. Und dieser Starrsinn, der mich schon mein ganzes Leben begleitet hatte, half mir durch diese Zeit.
Und ich zog es durch.
Ich schaffte die Grundausbildung, bekam am Ende sogar die Urkunde für „vorbildliche Pflichterfüllung“ — ein Papier, das mir vielleicht mehr bedeutete, als alle Zeugnisse vorher.
Denn es war der erste Moment, in dem jemand einmal sagte:
Du hast dich bewährt. Du bist nicht nur das Problemkind. Du hast durchgehalten.
Doch kaum war die Uniform ausgezogen, begann der nächste Kampf.
Die Rückkehr ins zivile Leben fühlte sich fremd an.
Ich war es gewohnt, Befehle zu bekommen, Pläne zu haben.
Und jetzt? Wieder Schule. Diesmal: das Fachabitur.
Es war, als würde ich in eine völlig andere Welt stolpern.
Während ich selbst noch mit meinen Erlebnissen beim Bund rang, mit den Schmerzen, dem Anpassungsdruck, den Erinnerungen an meine Kindheit, stand ich nun plötzlich zwischen Schülern, die politische Diskussionen führten, über Globalisierung stritten, über Pazifismus, Gender und Umwelt.
Und dann kam der Moment, der mich endgültig zurückwarf.
Es war meine eigene Klassenlehrerin, die mich vor der ganzen Klasse bloßstellte:
„Na, da ist ja unser Babykiller“, sagte sie spöttisch, mit diesem überheblichen Lächeln, das mir bis heute in den Knochen steckt.
Der Satz bohrte sich in mein Herz wie ein Messer.
Er holte all das wieder hervor, was ich glaubte, endlich ein Stück weit hinter mir gelassen zu haben: das Gefühl, immer der Außenseiter zu sein.
Nie richtig dazuzugehören. Immer das Ziel zu sein. Egal, wo ich hinkam.
Die Mitschüler mieden mich zunehmend.
Ich spürte es im Unterricht, auf dem Gang, in den Pausen.
Ich wurde nicht angegriffen — nein, das war subtiler.
Es war dieses Schweigen.
Dieses demonstrative Nicht-Hinschauen.
Dieses Stille-Mobbing, das fast noch mehr wehtut als offene Prügel.
Ich war wieder allein.
Und doch: Ich versuchte, mich durchzubeißen.
Neben der Schule absolvierte ich mein Praktikum bei Jacob EDV — einem kleinen, familiären IT-Laden.
Dort, in diesem winzigen Betrieb, blühte ich auf. Dort sah man, was ich konnte.
Ich reparierte PCs, baute Netzwerke, half Kunden, richtete Server ein.
Der Chef vertraute mir. Ich spürte: Hier zählt, was ich kann — nicht, wo ich herkomme.
Nicht meine Vergangenheit. Nicht meine Narben.
Doch als wäre das Leben nicht schon mühsam genug, kam dann der nächste Zusammenbruch:
Mein Chef erlitt einen schweren Tauchunfall.
Plötzlich war ich als Praktikant der einzige, der den Laden irgendwie am Laufen hielt.
Ich arbeitete Tag und Nacht, kämpfte mich durch Bestellungen, Kundenanfragen, Lieferprobleme, während die Schule weiterlief — und während in mir das alte, dunkle Loch wieder aufriss.
Ich funktionierte.
Aber innen drin tobte längst wieder der Sturm.
Bis er mich schließlich ganz überrollte. Der Körper streikte. Die Psyche brach.
Und ich fand mich dort wieder, wo so viele Abstürze endeten:
In der Psychiatrie.
Kapitel 8 – Der vollständige Zusammenbruch
Als ich das erste Mal durch die Türen der Psychiatrie trat, war ich nicht verzweifelt schreiend hierhergebracht worden.
Ich kam selbst.
Oder besser gesagt: Ich ließ mich einweisen, weil ich wusste, dass ich am Ende war.
Alles war zu viel geworden.
Der Druck aus der Schule, das Praktikum, das Alleinsein, die alten Dämonen, die nie wirklich geschlafen hatten.
Schlaflose Nächte, in denen ich starr in die Dunkelheit starrte.
Tage, an denen selbst das Aufstehen zum Kraftakt wurde.
Herzrasen.
Angst.
Panik.
Der Körper wie elektrisiert, das Herz hämmernd, die Gedanken kreisend.
Es war nicht mehr nur Erschöpfung.
Es war, als ob sich mein Innerstes auflöste.
Die eigene Existenz wurde brüchig.
Man denkt dann nicht mehr rational.
Man funktioniert nicht mehr.
Man lebt nicht mehr.
Man existiert nur noch.
Oder besser: man zerbricht langsam. Stück für Stück.
Die Klinik war nüchtern.
Weiße Wände, graue Böden, das charakteristische Summen der Neonröhren.
Die Fenster mit dicken Griffen gesichert, Tische verschraubt.
Überall Sicherheitsmechanismen gegen sich selbst.
Hier saßen sie alle:
Die Stillen, die Verlorenen, die Verstörten.
Ein Sammelbecken von Leben, die irgendwo zwischen „zu viel“ und „nicht mehr können“ strandeten.
Ich war einer von ihnen geworden.
In den ersten Tagen funktionierte ich nur.
Blutdruck messen, Medikamentengabe, Sitzungen, Gespräche.
Ich antwortete, ich nickte, ich spielte die Rolle des Patienten, der mitarbeitet.
Doch innerlich fühlte ich mich, als würde ich immer weiter in einen schwarzen See sinken.
Die Ärzte sprachen von Erschöpfungsdepression.
Von Überforderung.
Von Anpassungsstörung.
Sie hatten nicht unrecht — aber sie sahen nur die Spitze des Eisbergs.
Niemand fragte wirklich, was hinter all dem lag.
Was mich an diesen Punkt gebracht hatte.
Wie tief die Wurzeln dieser Erschöpfung reichten.
Nach zwei Wochen wurde ich wieder entlassen.
Nicht, weil ich geheilt war.
Nicht, weil es mir besser ging.
Sondern, weil ich mich wieder stabil gab.
Weil ich in der Lage war, die richtigen Sätze zu sagen.
Doch draußen war nichts stabil.
Die Schule erwartete, dass ich weitermache.
Das Praktikum lief weiter.
Das Leben stellte sich wieder taub, verlangte Funktionieren.
Und ich tat, was ich immer getan hatte:
Ich schluckte alles runter, packte es irgendwo in die hintersten Winkel meiner Seele.
Wie einen übervollen Kellerraum, in dem man die Tür nur noch mit Mühe schließen konnte.
Doch irgendwann quoll der Schutt auch dort hervor.
2003 brach ich endgültig.
Ich spürte es, als ich morgens aufwachte und wusste:
Heute ist es vorbei.
Die Gedanken, die Stimmen im Kopf, das schwarze Loch der Hoffnungslosigkeit – sie hatten gesiegt.
Ich wollte nicht mehr.
Nicht mehr kämpfen.
Nicht mehr hoffen.
Nicht mehr versuchen.
Nicht mehr atmen.
Der Gedanke an Suizid war plötzlich nicht mehr nur ein Gedanke.
Er war Option.
Plan.
Trost.
Ich war an dem Punkt angekommen, wo man nicht mehr den Tod fürchtet, sondern das Weiterleben.
Und es war nicht nur mein Leben, das ich beenden wollte.
In meinem Schmerz, in meiner Verzweiflung, keimte auch der zerstörerische Gedanke, alle mitnehmen zu wollen, die ich für meine Qualen verantwortlich machte.
Nicht aus Hass.
Aus dieser irren Logik, die sich tief in verzweifelte Gehirne frisst, wenn sie zu lange allein in der Dunkelheit bleiben.
Doch es kam anders.
Man griff ein, noch rechtzeitig.
Ich kam erneut in die Klinik.
Diesmal länger.
Sechs Wochen.
Sechs Wochen, die sich anfühlten wie sechs Jahre.
Und wieder:
Keine wirkliche Aufarbeitung.
Keine intensive Traumatherapie.
Nur Medikamente.
Beruhigung.
Verwaltung der Symptome.
Die Ursachen blieben unangetastet.
Als ich entlassen wurde, war ich funktional – aber innerlich leerer als je zuvor.
Ich hatte meinen ersten schweren psychischen Zusammenbruch überlebt.
Doch ein Stück von mir war dort geblieben.
Kapitel X – Metall, Knochen, Licht aus: Der Tag, an dem alles zerbrach
2003, irgendwann im Frühling. Ich fuhr mit dem Motorrad Richtung Darmstadt, die Sonne tief im Rücken, das Gefühl von Geschwindigkeit und Freiheit in den Adern – das Gefühl, wenigstens in diesem Moment alles unter Kontrolle zu haben.
Was dann kam, war keine Sekunde, kein Augenblick zum Nachdenken.
Ein Auto im Gegenverkehr, Fahrer geblendet von der Sonne, sieht mich nicht, setzt zum Linksabbiegen an. Plötzlich nur noch: Metall, Licht, Bremsen, Hoffnung. Ich reiße die Maschine nach rechts, versuche zu bremsen, das Hinterrad blockiert, ich öffne wieder, will ausweichen – dann ist da nur noch dieses große Metallschild, dem ich im letzten Moment entgehe. Doch die Laterne steht daneben, und ich will nicht gegen Stahl sterben. Also versuche ich es zwischen Schild und Laterne – lande am Ende mit voller Wucht auf einem dicken, gemeißelten Stein, verliere die Kontrolle, fliege, spüre, wie mich der Sattel aushebelt.
Noch ein letztes Geräusch – das Knacken, das Krachen – und dann Stille.
Ich mache noch das Gebüsch platt, dann ist da der Baum, und plötzlich: Nichts mehr. Licht aus.
Als ich wieder wach werde, ist alles anders. Stimmen im Nebel, ein Geruch von Blut, Schweiß, Benzin. Ich höre, wie jemand sagt: „Ich bin der Notarzt.“ Später, im Hubschrauber, sagt er zu mir: „Du hattest richtig Glück, Junge.“
Glück?
Vielleicht.
Ich lebe. Aber ich bin wieder ein Stück zerbrochener als vorher. Noch ein paar Verletzungen mehr, die nie richtig heilen. Ab diesem Tag ist da ein Schmerz, der mich nie wieder verlässt – tief unten im Rücken, im Ischias, wie ein bohrender Schatten, der sich immer wieder in Erinnerung ruft, dass nichts jemals wirklich vorbei ist.
2004 – Der zweite Schlag
Kaum ein Jahr später, als hätte das Schicksal es besonders eilig, kommt der nächste Einschlag. Diesmal kein Motorrad, sondern Fahrrad – und wieder ein Auto, das abbiegt, wieder ein Moment, in dem alles auf einen Punkt zusammenschrumpft.
Diesmal rammt er mich richtig weg. Ich fliege. Kopf voraus. Und dann dieses Geräusch – ein hohles, trockenes Knacken, wie wenn man zwei Bowlingkugeln gegeneinander schlägt oder eine Kokosnuss aufbricht.
Ich erinnere mich, wie mir übel wird, wie ich Blut spucke. Dann Licht aus.
Wochenlang liege ich im Koma. Hirnblutung. Schädelbasisbruch. Meine Eltern am Bett, bereit, sich zu verabschieden, weil niemand sagen kann, ob ich jemals wieder aufwache.
Und doch – wieder überlebe ich.
Wieder kehre ich zurück.
Aber jedes Mal lasse ich ein Stück von mir zurück in diesen Trümmern aus Metall, Asphalt und Angst.
Canna. – nicht nur Flucht, sondern Überleben
Es war nicht nur der Schmerz, der mir nach diesen Unfällen blieb. Es war auch die Angst, dass der Körper, dieses ewige Schlachtfeld, nie wieder Frieden finden würde.
Canna. war nie nur Rausch. Es war meine letzte Möglichkeit, den Dauerschmerz wenigstens für ein paar Stunden zu vergessen, das Zittern in den Nerven zu beruhigen, den Phantomschmerz im Rücken und die Erinnerungen im Kopf leiser zu drehen.
Niemand, der nicht selbst in einem solchen Körper gefangen war, konnte verstehen, warum ich das brauchte. Für andere war es eine Dro.. Für mich war es manchmal das Einzige, was noch zwischen mir und dem Aufgeben stand.
Kapitel 9 – Die Reise in die Psychose
Die Zeit nach meinem ersten großen Zusammenbruch war wie ein zerbrechliches Gleichgewicht auf einer dünnen Linie. Ich lebte.
Aber mehr war es nicht.
Ich funktionierte.
Wieder einmal.
So wie ich es immer gelernt hatte.
Die innere Anspannung war wie ständiges Hintergrundrauschen.
Panikattacken, Schlafstörungen, unkontrollierbare Angstzustände blieben meine Begleiter.
Doch ich zwang mich jeden Tag durch, klammerte mich an Arbeit, an Technik, an das bisschen Routine, das ich mir mühselig zusammengesammelt hatte.
Doch unter dieser dünnen Oberfläche brodelte längst ein neuer Sturm.
Ich griff wieder häufiger zu Canna..
Es war nie nur der Rausch.
Es war die einzige Medizin, die mich tatsächlich ein Stück weit beruhigen konnte.
Wenn ich rauchte, wurde der Lärm in meinem Kopf leiser.
Die Angst wich für kurze Stunden, das Zittern verschwand.
Doch ich wusste auch:
Das Pflaster hielt nicht ewig.
Die Dunkelheit kam immer wieder zurück.
Und dann kam jener verhängnisvolle Tag.
Es war ein Festival, ein Open-Air.
Musik, Menschen, Lichter — ein eigentlich schöner Abend.
Doch ich war nervös.
Es gab an diesem Tag kein Canna..
Die Angst war wieder voll da, der Körper unruhig, das Herz jagte wie eine aufgescheuchte Taube.
Der Suchtdruck wuchs.
Ich war müde vom Kämpfen, erschöpft von den endlosen Jahren des inneren Widerstandes.
Jemand bot mir Psilocybin-Pilze an.
„Das beruhigt. Das hilft runterkommen. Ist doch alles natürlich“, sagte er.
Und ich griff zu.
Ein dummer, verzweifelter Fehler.
Einer, der alles veränderte.
Anfangs fühlte sich alles harmlos an.
Die Welt bekam weiche Ränder, Farben schienen wärmer, Stimmen angenehmer.
Doch dann, ganz plötzlich, kippte es.
Als würde ein Schalter umgelegt.
Ohne Vorwarnung begann mein Gehirn, die Grenzen zwischen Realität und Wahn aufzulösen.
Es begann mit kleinen Verzerrungen.
Bilder flackerten, Bewegungen schienen nachzuhängen.
Dann kamen die Stimmen.
Unzählige Stimmen.
Sie sprachen nicht laut.
Sie flüsterten.
Zischten.
Wurden langsam lauter.
Schoben sich in meine Gedanken wie dunkle Schatten, die keine Tür mehr verschlossen hielt.
Sie beleidigten mich, verhöhnten mich, drohten mir.
„Du bist Dreck.“
„Sie beobachten dich.“
„Gleich kommt jemand.“
„Du bist schuld.“
„Du hast alles zerstört.“
Und dann kamen die Bilder.
Schreckliche, grelle, entsetzliche Bilder.
Verzerrte Gesichter, bedrohliche Augen, Verfolgungsfantasien.
Die Realität löste sich vollends auf.
Ich taumelte durch die Menge.
Die Musik wummerte wie der Herzschlag einer feindlichen Maschine.
Jeder Mensch schien plötzlich ein Feind zu sein.
Alle schauten.
Alle wussten.
Alle lachten.
Die Angst packte mich wie ein eisiger Klauenhaken.
Von diesem Tag an war mein Geist ein anderes Terrain geworden.
Die Stimmen blieben.
Tage. Wochen. Monate.
Sie begleiteten mich wie ein finsterer Chor, der nicht mehr verstummte.
Es war, als hätten sich all die alten Ängste, Demütigungen, all der Schmerz und die Einsamkeit zu einem einzigen schwarzen Wesen zusammengeschlossen, das nun bei mir wohnte.
Und es hörte nie mehr auf, zu sprechen.
Ich konnte nicht mehr unterscheiden, was real war und was nicht.
Selbst banale Alltagsgeräusche wurden zu versteckten Botschaften.
Jedes vorbeifahrende Auto bedeutete Gefahr.
Jeder Blick von Passanten war ein Vorwurf.
Selbst die Straße unter meinen Füßen schien mir Fallen zu stellen.
Ich begann, nur noch auf bestimmte Linien zu treten, in der Hoffnung, dass ich so Schicksalsschläge abwenden könnte.
Meine Welt war ein Labyrinth geworden.
Ein einziges, tödliches Gleichgewicht zwischen Kontrolle und völliger Auflösung.
Doch das Schlimmste an einer Psychose ist:
Du merkst am Anfang nicht, dass du krank bist.
Du glaubst deinen eigenen Gedanken.
Du glaubst den Stimmen.
Sie werden zur neuen Realität.
Zur einzigen, die du noch kennst.
Erst viel später verstand ich, was wirklich mit mir geschah.
Aber in dieser Zeit war ich gefangen in einem Albtraum, den niemand von außen wirklich greifen konnte.
Und dann kam die Diagnose: Schizophrenie.
Die Ärzte sahen die Symptome, hörten von den Stimmen, dem Wahnerleben, den Ängsten – und die Diagnose war schnell gestellt.
Schizophrenie.
Ein einziges Wort, das in dieser Welt so viel zerstören kann.
Es war, als hätte man mir einen Stempel auf die Stirn gedrückt, der ab jetzt mein ganzes Leben begleiten sollte.
Und dennoch:
Tief in mir wusste ich schon damals — es war nicht nur eine „Störung des Denkens“.
Es war die Konsequenz von all dem Schmerz, dem Trauma, dem jahrelangen inneren Krieg.
Die Psychose war nicht plötzlich gekommen.
Sie war das Resultat eines Lebens voller Überforderung, Gewalt, Demütigung und Angst.
Und so begann mein Leben als offiziell diagnostizierter „Schizophrener“.
Ein weiterer Abgrund, in den ich erst noch richtig fallen sollte.
Kapitel 10 – Leben mit dem Stempel
Mit der Diagnose begann ein neuer Abschnitt. Doch nicht etwa Heilung, nicht etwa Hilfe. Sondern das Leben mit einem Stempel, der schwerer wog als all die Symptome selbst.
Die Psychose hatte mich damals voll im Griff. Und ja, es war Schizophrenie. Ich will daran nichts beschönigen. Die Stimmen waren real, die Bilder lebendig, die Angst allgegenwärtig. Aber das, was danach folgte, war eine andere Art von Schmerz. Ein langsames Ertrinken in den Mechanismen des Systems, in den Schubladen der Gesellschaft.
Die Behandlung lief ambulant. Medikamente wurden verordnet, Neuroleptika, die mich zwar beruhigten, aber auch betäubten. Mein Kopf wurde träge, meine Reaktionen verlangsamt, die Gefühle dumpf. Ich konnte wieder schlafen, aber es war kein erholsamer Schlaf mehr. Es war eher wie ein Ausschalten, ein künstliches Abschalten des Denkens. Die Stimmen wurden leiser, ja. Aber sie verschwanden nicht sofort. Sie flüsterten weiter aus dunklen Ecken meines Bewusstseins.
In den ersten Jahren war jeder Tag ein Kampf mit meinem eigenen Kopf. Ich lernte, die Stimmen zu ignorieren, zu relativieren. Ich begann, sie zu enttarnen, zu erkennen, dass es keine fremden Wesen waren, sondern Spiegelbilder meiner eigenen Ängste. Doch leicht war das nicht. Jeder Tag war ein Schachspiel gegen mich selbst.
Gleichzeitig begann der gesellschaftliche Teil der Erkrankung, der mir fast noch mehr zu schaffen machte als die Psychose selbst. Denn die Diagnose war nicht einfach ein medizinischer Befund. Sie war ein Etikett. Ein Aktenvermerk. Und Akten bleiben bestehen.
Plötzlich wurden Türen eng, Gespräche vorsichtiger, Chancen weniger. Egal ob bei Behörden, bei der Polizei, beim Führerschein, bei der MPU, bei Gutachtern – überall tauchte das eine Wort auf. Schizophrenie. Es war egal, dass ich funktionierte, dass ich keine Gefahr war, dass ich stabil blieb. Die Diagnose war wie ein rotes Warnschild über meinem Leben.
Man begann, mich durch Akten zu betrachten, nicht durch Gespräche. Ich wurde zum Risikofaktor, zur potenziellen Gefahr, zur Person mit psychischer Vorgeschichte. Was ich dachte, was ich sagte, zählte plötzlich weniger. Vielmehr wurden meine Worte nur noch durch den Filter der Diagnose interpretiert. War ich mal wütend? Beleg für Instabilität. Sprach ich über Ungerechtigkeit? Ausdruck einer möglichen Wahnstörung. Wollte ich meine Geschichte erzählen? Beweis einer „Krankheitsuneinsicht“.
Ich war nicht mehr Marcus, der Mensch. Ich war Marcus, der Schizophrene.
Dabei begann sich die Krankheit selbst längst zurückzuziehen. Zwischen 2008 und 2010 wurden die Stimmen langsam leiser. Die Episoden wurden seltener, die Paranoia löste sich Stück für Stück. Ich begann wieder, klarer zu denken, rationaler. Die Medikamente wurden reduziert, ich begann, mich Stück für Stück selbst zurückzuerobern. Und ab etwa 2013 waren die Stimmen endgültig verstummt. Sie waren weg. Nicht gedämpft, nicht versteckt — einfach verschwunden.
Doch die Akten blieben. Unverändert.
Ich war gesundet. Aber ich war nicht befreit.
Manchmal fragte ich mich, ob es leichter gewesen wäre, wäre die Krankheit geblieben. Denn so paradox es klingt: Ein sichtbarer Kranker wird oft fürsorglicher behandelt als einer, dem man unterstellt, seine Krankheit nur zu verleugnen. Das Stigma aber saß tief. Selbst als ich längst wieder in Ausbildung, in Arbeit, im Leben stand, blieben die Vorbehalte. Die Behördenakten hielten an ihrer Version fest. Und je länger man kämpft, je mehr man sich wehrt, desto leichter wird aus dem Kämpfer der Uneinsichtige.
Ich lernte, vorsichtig zu sein, klug zu wählen, wem ich was erzählte. Manche Freundschaften hielten, manche zerbrachen an der Angst. Partnerschaften? Lange unmöglich. Wer will schon jemanden mit solch einem Etikett?
Und doch: Ich gab nicht auf.
Ich kämpfte mich zurück in den Beruf, in die Ausbildung, in die Gesellschaft. Stück für Stück. Trotz Stempel. Trotz Vorurteile. Trotz Akten. Trotz Behörden. Trotz allem.
Die Schizophrenie hatte mich einst überrannt. Aber ich war stärker. Ich war zurück.
Doch ich wusste: Die Akten würden nie vergessen.
Kapitel 11 – Der lange Weg zurück ins Leben
Als die Stimmen endlich verstummten, war es nicht einfach vorbei. Es war, als wäre ich aus einem monatelangen Albtraum erwacht — nur um festzustellen, dass ich in einer Realität stand, die mir fremd geworden war.
Da war keine Erleichterung, kein Moment des Aufatmens, kein jubelnder Gedanke: „Jetzt bist du gesund.“
Da war nur Stille. Und Leere.
Die Jahre in der Psychose hatten Spuren hinterlassen. Nicht nur in meinem Kopf, sondern in meinem ganzen Leben. Ich war isoliert, entwöhnt vom normalen Alltag. Kontakte waren wenige geblieben, viele hatten sich abgewendet, einige hatten sich nie für meinen Kampf interessiert. Ich war nie richtig angekommen in der Welt der Gesunden, und gleichzeitig war ich längst kein Patient mehr. Ich war irgendwo dazwischen.
Was mich in dieser Zeit rettete, war keine Therapie, kein Medikament, kein Facharzt. Es war ein Ort, an dem ich vorher nie Hilfe gesucht hätte: das Tierheim.
Es begann klein, fast zufällig. Ich war auf der Suche nach einer Aufgabe. Nach irgendetwas, das mir wieder einen Tagesablauf gab, mich zwang aufzustehen, mich zwang, etwas anderes zu denken als immer nur: Was, wenn es wiederkommt?
Die Arbeit mit den Hunden war anders als alles, was ich zuvor kannte. Da war kein Misstrauen. Keine Akten. Kein Stempel. Keine Fragen nach Diagnosen. Die Tiere fragten nicht, was ich erlebt hatte. Sie wollten nur eines: Dass jemand da war. Dass jemand für sie sorgte.
120 Hunde. Füttern, versorgen, ausführen, sauber machen. Jeden Tag. Und mit jedem Tag kam etwas zurück, was ich längst verloren geglaubt hatte: ein Gefühl von Verantwortung, von Sinn, von Anerkennung — und vielleicht sogar ein Hauch von innerem Frieden.
Es war körperlich hart. Natürlich war es das. Die Gelenke schmerzten, die Wirbelsäule zog, die Spastik machte vieles anstrengend. Und doch: Der Schmerz fühlte sich anders an als der seelische Schmerz der Jahre zuvor. Dieser Schmerz hier war ehrlich. Er war der Preis dafür, gebraucht zu werden.
Die Hunde haben mich gerettet, auch wenn ich ursprünglich glaubte, ich rette sie.
Viele der Tiere waren selbst gebrochene Seelen: misshandelt, verängstigt, ausgesetzt. Und doch entwickelten sie Vertrauen. Ein Blick, ein wedelnder *beep*, ein schüchternes Anlehnen an mein Bein — das war mehr als jede Therapie es je hätte leisten können. Hier lernte ich wieder, dass Vertrauen keine Selbstverständlichkeit ist, sondern ein Geschenk, das man sich verdient.
Manchmal saß ich einfach nur im Zwinger, zwischen den Tieren, ließ sie um mich herumstreifen, spürte die Wärme ihrer Körper, das leise Hecheln, das beruhigende Gewicht eines müden Hundes, der sich an mich schmiegte. Ohne Worte. Ohne Fragen. Ohne Forderungen.
Es waren nicht die großen, dramatischen Momente, die heilten. Es war die Summe dieser kleinen Augenblicke.
Natürlich war die Arbeit nicht romantisch. Wer je 120 Hundezwinger gereinigt hat, wer bei 35 Grad im Hochsommer Eimer um Eimer ausleert, wer den Gestank von altem Futter, Kot und Desinfektionsmittel kennt, weiß, wovon ich spreche. Und doch war es dieser Dreck, der mich wieder ins Leben holte.
Der Alk., der jahrelang mein Betäubungsmittel gewesen war, spielte zu dieser Zeit noch eine kleine Rolle. Ein Amaretto im Kaffee — mehr nicht. Ich brauchte ihn noch, wie man einen alten, kaputten Verband nicht sofort abreißt, weil man Angst hat, die Wunde könnte doch wieder aufbrechen. Aber ich hielt die Kontrolle. Ich lernte wieder, Maß zu halten.
Es war auch die Zeit, in der ich begann, ernsthaft über einen beruflichen Wiedereinstieg nachzudenken. Ich wusste, dass ich wieder zurück wollte in meinen alten Bereich, zurück in die IT, zurück zu den Maschinen, zu den Systemen. Denn Maschinen hatten mich nie verurteilt. Sie funktionierten, sie waren berechenbar — anders als Menschen.
2010 schließlich fasste ich den Mut: Ich begann die Ausbildung zum IT-Systemelektroniker. Mit fast 30 war ich plötzlich der Onkel unter lauter Teenagern. Die anderen Azubis waren meist 16, 17 — ich war doppelt so alt. Aber ich nahm es mit Humor. Und, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, spürte ich auch ein wenig Respekt von anderen.
In der Berufsschule war ich plötzlich nicht mehr der Außenseiter, nicht mehr der Geprügelte, nicht der Gemobbte. Vielleicht, weil ich älter war. Vielleicht, weil ich ein wenig Lebenserfahrung ausstrahlte. Vielleicht, weil ich gelernt hatte, meine Geschichte nicht jedem zu erzählen — und doch offen genug war, um keine Angst mehr vor meiner Vergangenheit zu haben.
Es gab Momente, in denen ich sogar zum ruhigen Pol wurde. Wenn Jüngere sich stritten, wenn jemand auf dumme Gedanken kam, war ich es, der schlichtete. Vielleicht, weil ich beide Seiten kannte: Die, die zuschlagen, und die, die geprügelt werden. Und weil ich wusste, dass Gewalt niemals wirklich siegt.
Ich funktionierte wieder. Mehr noch: Ich lebte wieder. Nicht mehr als Schatten meiner selbst, sondern als Mensch, der seine Geschichte trug — aber von ihr nicht mehr erdrückt wurde.
Der Weg hierher war lang gewesen. Und ich wusste: Er würde noch lange nicht zu Ende sein.
Kapitel 12 – Neustart zwischen IT, Alltag und alten Schatten
Die bestandene Prüfung zum IT-Systemelektroniker war mehr als nur ein Zettel in meiner Hand. Sie war für mich so etwas wie eine Eintrittskarte zurück in eine Welt, von der ich längst geglaubt hatte, dass ich in ihr keinen Platz mehr finden würde.
Mit dem Abschluss in der Tasche bewarb ich mich. Ich brauchte keine langen Umwege, keine endlosen Bewerbungsmarathons. Vielleicht hatte ich einfach Glück. Vielleicht aber auch das, was man irgendwann einmal „Lebensleistung“ nennt. Jedenfalls erhielt ich eine Stelle in der IT-Abteilung der Median-Klinik.
Ausgerechnet eine Klinik.
Ich, der jahrelang selbst Patient war, der auf psychiatrischen Stationen fixiert worden war, der diese Welt besser kannte als ihm lieb war — stand jetzt auf der anderen Seite. Nicht als Patient. Nicht als Akte. Sondern als Mitarbeiter, als jemand, der die Server am Laufen hielt, der die Netzwerke pflegte, die Rechner einrichtete, die Software reparierte.
Ich war wichtig.
Meine Aufgabe war es, die Systeme am Leben zu halten, auf denen die Diagnosen, die Medikamente, die Gutachten liefen. Ausgerechnet ich, der all diese Formulare selbst so oft in Händen von Fremden gesehen hatte, sorgte nun dafür, dass sie gespeichert, gesichert und abrufbar blieben.
Es war eine paradoxe Art von Genugtuung. Und gleichzeitig eine tägliche Gratwanderung.
Denn natürlich schwang immer dieser leise, giftige Gedanke mit: „Wüssten sie, wen sie da eigentlich eingestellt haben. ?“
Die Vergangenheit war nicht gelöscht. Die Akten existierten weiter. Die Diagnosen standen schwarz auf weiß irgendwo gespeichert — auf Servern, die ich selbst betreute. Doch solange ich funktionierte, solange ich meine Arbeit tat, fragte niemand nach. Vielleicht auch, weil ich meinen Job gut machte. Sehr gut sogar.
Ich wusste, wann ein Server zickt, bevor andere es bemerkten. Ich konnte stundenlang Kabel verlegen, Netzwerke neu strukturieren, Fehler suchen, die sonst keiner fand. Ich war der Mann für die Probleme, die keiner lösen wollte. Und ich löste sie.
Doch innerlich blieb ich wachsam.
Die alten Dämonen schlummerten. Die Angst, dass irgendwann doch wieder alles kippen könnte, dass irgendein neuer Behördenbrief mich zurückholen würde in die Welt der Psychiatrien, Kliniken, Zwangseinweisungen, blieb wie ein dünner Schleier über allem.
Nach einigen Jahren in der Median-Klinik kam der nächste berufliche Schritt. Ich wechselte zur SVG, einem IT-Dienstleister im Logistikbereich. Größere Strukturen, neue Herausforderungen. Und ich wuchs hinein. Ich konnte liefern, konnte Verantwortung übernehmen, war plötzlich in Meetings, an großen Projekten beteiligt, betreute ganze Systeme.
Und ich hielt durch. Ich funktionierte.
Und dennoch: Die Last der Vergangenheit begleitete mich leise weiter. Schlafstörungen blieben mein heimlicher Begleiter. Ich gewöhnte mich daran, mit vier, fünf Stunden Schlaf auszukommen. Ich gewöhnte mich daran, immer auf Standby zu sein.
So lebte ich. Funktionierend. Arbeitend. Überlebend.
2015 — es war eines der wenigen Jahre, die so etwas wie Hoffnung brachten. In einem Moment, der fast schon unscheinbar begann, lernte ich meine Frau kennen. Sie war anders als die Frauen, die ich bis dahin getroffen hatte. Ruhig. Vernünftig. Vernünftig fast schon mehr, als mir manchmal guttat.
Aber vielleicht war es genau das, was mich anzog: Stabilität. Berechenbarkeit. Keine Dramen. Kein Mitleid. Sondern einfach jemand, der mich nahm, wie ich war.
Wir heirateten im Mai 2016.
Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, wirklich angekommen zu sein. In einem Leben, das fast schon normal wirkte.
Doch ich wusste, dass diese Normalität auf wackeligen Fundamenten stand.
Denn die Schatten, die Wunden, die Erinnerungen — sie schliefen nie ganz.
Kapitel 13 – Karriere, Ehe, Funktionieren – und das zähe Gift der Vergangenheit
Von außen betrachtet war mein Leben inzwischen genau das geworden, was viele sich wünschen würden. Fester Job. Regelmäßiges Einkommen. Ehe. Eigene Wohnung. Ein Alltag, in dem alles irgendwie funktionierte.
Ich war inzwischen bei der ING gelandet, einem der großen Player im Bankenbereich. IT auf hohem Niveau, Verantwortung, Schichtdienst. Große Serverfarmen, kritische Systeme, bei denen kein Fehler erlaubt war. Ich war mittendrin — einer von denen, die nachts um drei Uhr ans Telefon gingen, wenn irgendwo der Alarm losging, die Server neu starteten, Datenbanken flickten, Backups überwachten, Fehlerprotokolle durchforsteten.
Ich war gut. Sehr gut. Und ich wusste, dass ich gebraucht wurde.
Und dennoch: Je stabiler mein berufliches Leben wurde, desto stärker spürte ich innerlich den Preis dafür.
Denn während ich funktionierte, schob ich all das, was mich innerlich zerfraß, immer nur weiter nach hinten.
Die Flashbacks blieben. Die Schlafstörungen blieben. Das alte Zittern, wenn ich alleine im Dunkeln lag, war nie wirklich verschwunden.
Oft wachte ich mitten in der Nacht auf. Der Schweiß klebte auf meiner Haut. Bilder, Gerüche, Geräusche, längst vergangene Szenen aus der Klinik oder den Schulfluren tauchten wieder auf. Manchmal glaubte ich, wieder diese Enge der Fixierung zu spüren. Manchmal roch ich förmlich das Desinfektionsmittel der Stationen, fühlte wieder den Gurt an der Brust, obwohl ich längst in meinem eigenen Bett lag.
Und doch stand ich am nächsten Morgen wieder auf. Zog meine Uniform an — auch wenn sie diesmal nur aus Hemd und IT-Ausweis bestand — und ging zur Arbeit, als wäre nichts.
Auch in der Ehe zeigte sich irgendwann diese leise Verschiebung.
Anfangs hatten wir gemeinsame Pläne geschmiedet. Haus, Familie, vielleicht irgendwann Kinder. Doch im Alltag schlich sich eine Kälte ein, die ich nicht erwartet hatte. Nähe war nicht mehr selbstverständlich. Streicheleinheiten, einfach mal Zärtlichkeit – das, was ich mir immer so sehr gewünscht hatte, wurde seltener.
Ich war der, der trug. Der, der funktionierte. Der, der alles zusammenhielt.
Und irgendwann fragte ich mich:
Wer hält eigentlich mich?
Doch ich war viel zu sehr daran gewöhnt, zu tragen, um laut diese Frage zu stellen. Ich biss die Zähne zusammen, wie ich es immer getan hatte. Ich schulterte Haushalt, Arbeit, Verwaltung, Planung. Und je mehr ich trug, desto weniger kam zurück.
Nicht aus Bosheit. Nicht einmal unbedingt aus Gleichgültigkeit. Vielleicht war es einfach… Unvermögen.
Aber die Einsamkeit, die daraus wuchs, fraß sich leise immer weiter in mich hinein.
Die alten Dämonen der Vergangenheit fingen an, still wieder Raum zu nehmen.
Nicht als große Katastrophen.
Nicht als Zusammenbruch.
Sondern als täglicher leiser Schmerz, der nie ganz verschwand.
Und dann kamen die Behörden wieder ins Spiel.
Die alten Akten, die alten Stempel, die alten Diagnosen, die nie verschwanden.
Immer wieder tauchte „Schizophrenie“ auf, obwohl ich längst symptomfrei war.
Immer wieder Fragen zur Vergangenheit, zur MPU, zu Canna., zu meinem Waffenrecht.
Ich war nie eine Gefahr. Hatte nie gegen andere Gewalt ausgeübt. Doch in den Formularen war ich Aktenzeichen. Und Akten vergessen nicht.
Je länger ich funktionierte, desto mehr wuchs der Druck.
Und ich wusste:
Wenn dieser Druck irgendwann kippt, dann wird es nicht laut sein.
Es wird kein lauter Knall sein. Es wird leise kippen.
Wie ein Kartenhaus, dem man ganz unten eine Karte herauszieht.
Kapitel 13 – Karriere, Ehe, Funktionieren – und das zähe Gift der Vergangenheit
Von außen betrachtet war mein Leben inzwischen genau das geworden, was viele sich wünschen würden.
Fester Job.
Regelmäßiges Einkommen.
Ehe.
Eigene Wohnung.
Ein Alltag, in dem alles irgendwie funktionierte.
Ich war inzwischen bei der ING gelandet, einem der großen Player im Bankenbereich. IT auf hohem Niveau, Verantwortung, Schichtdienst. Große Serverfarmen, kritische Systeme, bei denen kein Fehler erlaubt war. Ich war mittendrin — einer von denen, die nachts um drei Uhr ans Telefon gingen, wenn irgendwo der Alarm losging, die Server neu starteten, Datenbanken flickten, Backups überwachten, Fehlerprotokolle durchforsteten.
Ich war gut. Sehr gut. Und ich wusste, dass ich gebraucht wurde.
Und dennoch: Je stabiler mein berufliches Leben wurde, desto stärker spürte ich innerlich den Preis dafür.
Denn während ich funktionierte, schob ich all das, was mich innerlich zerfraß, immer nur weiter nach hinten.
Die Flashbacks blieben.
Die Schlafstörungen blieben.
Das alte Zittern, wenn ich alleine im Dunkeln lag, war nie wirklich verschwunden.
Oft wachte ich mitten in der Nacht auf. Der Schweiß klebte auf meiner Haut. Bilder, Gerüche, Geräusche, längst vergangene Szenen aus der Klinik oder den Schulfluren tauchten wieder auf. Manchmal glaubte ich, wieder diese Enge der Fixierung zu spüren. Manchmal roch ich förmlich das Desinfektionsmittel der Stationen, fühlte wieder den Gurt an der Brust, obwohl ich längst in meinem eigenen Bett lag.
Und doch stand ich am nächsten Morgen wieder auf. Zog meine Uniform an — auch wenn sie diesmal nur aus Hemd und IT-Ausweis bestand — und ging zur Arbeit, als wäre nichts.
Auch in der Ehe zeigte sich irgendwann diese leise Verschiebung.
Anfangs hatten wir gemeinsame Pläne geschmiedet. Haus, Familie, vielleicht irgendwann Kinder. Doch im Alltag schlich sich eine Kälte ein, die ich nicht erwartet hatte. Nähe war nicht mehr selbstverständlich. Streicheleinheiten, einfach mal Zärtlichkeit – das, was ich mir immer so sehr gewünscht hatte, wurde seltener.
Ich war der, der trug.
Der, der funktionierte.
Der, der alles zusammenhielt.
Und irgendwann fragte ich mich:
Wer hält eigentlich mich?
Doch ich war viel zu sehr daran gewöhnt, zu tragen, um laut diese Frage zu stellen. Ich biss die Zähne zusammen, wie ich es immer getan hatte. Ich schulterte Haushalt, Arbeit, Verwaltung, Planung. Und je mehr ich trug, desto weniger kam zurück.
Nicht aus Bosheit. Nicht einmal unbedingt aus Gleichgültigkeit. Vielleicht war es einfach… Unvermögen.
Aber die Einsamkeit, die daraus wuchs, fraß sich leise immer weiter in mich hinein.
Die alten Dämonen der Vergangenheit fingen an, still wieder Raum zu nehmen.
Nicht als große Katastrophen.
Nicht als Zusammenbruch.
Sondern als täglicher leiser Schmerz, der nie ganz verschwand.
Und dann kamen die Behörden wieder ins Spiel.
Die alten Akten, die alten Stempel, die alten Diagnosen, die nie verschwanden.
Immer wieder tauchte „Schizophrenie“ auf, obwohl ich längst symptomfrei war.
Immer wieder Fragen zur Vergangenheit, zur MPU, zu Canna., zu meinem Waffenrecht.
Ich war nie eine Gefahr. Hatte nie gegen andere Gewalt ausgeübt. Doch in den Formularen war ich Aktenzeichen.
Und Akten vergessen nicht.
Je länger ich funktionierte, desto mehr wuchs der Druck.
Und ich wusste:
Wenn dieser Druck irgendwann kippt, dann wird es nicht laut sein.
Es wird kein lauter Knall sein.
Es wird leise kippen.
Wie ein Kartenhaus, dem man ganz unten eine Karte herauszieht.
Kapitel 14 – Der Wendepunkt: Verlust, Krankheit und das Wiederaufflammen alter Ängste
Es gibt im Leben Momente, auf die bist du nie vorbereitet. Nicht einmal, wenn du schon alles Mögliche erlebt hast. Nicht einmal, wenn du dachtest, dass dich nichts mehr brechen kann.
Der 15. März 2023 war so ein Tag. Der Tag, an dem wir unser Baby verloren.
Wir hatten Hoffnung gehabt. Vielleicht zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte es sich an, als könnte aus all dem Schmerz doch noch etwas Gutes entstehen. Ich hatte mich gefreut. Mehr, als ich mir selbst eingestehen wollte. Vielleicht auch, weil ich glaubte, dass endlich eine neue Zeit beginnt. Eine, in der ich nicht mehr nur trage, sondern auch selbst wachsen kann.
Doch plötzlich war alles vorbei. Ohne Vorwarnung. Ohne Chance. Nur Leere.
Es war kein Schmerz wie die anderen, die ich kannte. Keine Schläge, keine Fixierung, kein Klinikbett. Sondern etwas viel Grausameres: dieser stille, kalte, bohrende Schmerz, der nicht aufhört, sondern einfach bleibt. Wie ein schwarzes Loch, das einem ein Stück der eigenen Seele herausschneidet.
Und kaum dass ich selbst noch aufrecht stand, traf es meine Frau.
Diagnose: Schizophrenie.
Die Ironie dieser Diagnose war fast zynisch. Ich, der sein halbes Leben mit dem Stigma dieser Krankheit kämpfen musste, stand nun auf der anderen Seite. Nicht als Patient, sondern als Partner. Als derjenige, der jetzt tragen sollte.
Ich funktionierte wieder. Nahm alle Belastung auf mich. Haushalt, Arbeit, Arzttermine, Medikamente, Gespräche mit dem Psychiater. Immer wieder sprach ich mit ihm. Immer wieder spürte ich, dass er nicht wirklich verstand. Er sah Tabellen, Symptome, Medikamente. Ich sah einen Menschen, den ich liebte. Einen Menschen, der dieselbe Hölle betrat, die ich selbst so gut kannte.
Es gab dunkle Nächte in dieser Zeit. Nächte, in denen ich selbst wieder an meine Grenzen kam. In denen ich zitternd am Küchentisch saß, während sie schlief. Nächte, in denen ich mich fragte, wie viel ein Mensch überhaupt tragen kann, bevor er zerbricht.
Und doch schafften wir es. Irgendwie. Schon nach zehn Monaten war sie wieder stabil, nach einem Jahr zurück im Job. Ich war stolz auf sie. Wirklich stolz. Doch der Preis, den ich innerlich zahlte, wuchs.
Die Behörden wurden in dieser Zeit nicht leiser. Im Gegenteil. Immer neue Schreiben, immer neue Nachfragen. Die alten Akten lebten längst ihr eigenes Leben. Egal, was ich erklärte. Egal, wie sehr ich funktionierte. In den Formularen war ich immer noch der: Psychisch auffällig. Dro.. Schizophrenie. Es war, als wären meine Worte bedeutungslos, weil die Vergangenheit lauter sprach.
Und tief in mir wusste ich: Der nächste Sturm würde kommen.
Es war nur eine Frage der Zeit.
Kapitel 15 – Der Tag, an dem alles kippt: November 2024
Es gibt diese Momente im Leben, wo man spürt: Jetzt bricht etwas, was man nie wieder ganz reparieren kann. Für mich war dieser Moment der November 2024.
Die Wochen davor waren schon ein einziges Nervenbündel. Post vom Amt. Briefe von der Polizei. Immer neue Fragen, immer dieselben Akten, die längst nicht mehr mit der Realität zu tun hatten. Ich hatte mehrfach selbst die Polizei kontaktiert, versucht, proaktiv zu sein. Ich wollte deeskalieren, wollte nicht wieder Opfer von Missverständnissen werden. Doch ich merkte: Die Mühlen waren längst angelaufen. Ich war für sie längst wieder Aktenzeichen, potenzielle Gefahr, Störfaktor.
Und dann kam der Tag, der alles zum Kippen brachte.
Es war kein lautes Drama. Kein Einsatzkommando mit Blaulicht und Rammbock vor meiner Haustür. Nein, sie warteten einfach, bis ich nichts ahnte. Ich war im Auto unterwegs, die Gedanken kreisten wie so oft um hundert Dinge gleichzeitig. Und dann plötzlich – aus dem Nichts – standen sie da. Die Polizei. Kein Wort, keine Erklärung. Sie zogen mich aus dem Fahrzeug, legten mir Handschellen an, nahmen mich einfach mit.
Abgeführt. Wie ein Krimineller. Ohne dass ich wusste, was eigentlich passiert war.
In den Berichten, die später geschrieben wurden, liest sich alles völlig anders. Dort hieß es, ich hätte bei einem Anruf selbst Gewalt angekündigt. Hätte gedroht, mich und andere zu gefährden, von Suizid gesprochen, von Sprengstoff geredet. Ein gefährlicher Mann, so die Akten. Ein Mann, der dringend gestoppt werden musste.
Aber die Wahrheit war eine ganz andere.
Ja, ich hatte telefoniert. Ja, ich war sarkastisch gewesen. Ja, ich war verzweifelt. Ich hatte gesagt: „Wenn ihr unbedingt eskalieren müsst…“ – aber das war keine Drohung. Es war Resignation. Müdigkeit. Eine Mischung aus Wut, Enttäuschung und dem Wissen, dass sowieso niemand mehr zuhört. Ich hatte keine Waffen gezogen, keine Pläne geschmiedet, keine Gefahr dargestellt.
Aber genau diese eine unglückliche Formulierung reichte. Ab da gab es kein Zurück mehr. Die Maschinerie lief.
Ich kam direkt in die Psychiatrie. Wieder dieser sterile Gang, diese kalten Türen, das alte Gefühl der Ohnmacht. Kaum angekommen, keine richtige Anamnese, keine Gespräche auf Augenhöhe. Die Ärztin sah mich kaum an. Die Diagnose stand quasi schon vor meinem ersten Wort fest: Schizophrenie.
Mir wurde schlagartig klar, wohin das führen würde. Ich kannte das Spiel. Ich wusste, was jetzt kommt. Ich hatte es schon erlebt.
Und dann überkam mich eine Panik, wie ich sie nur aus meinen schlimmsten Erinnerungen kannte. Die Bilder flackerten vor meinem inneren Auge: die Fixierungen, die Erniedrigungen, die völlige Hilflosigkeit. Ich konnte nicht bleiben. Nicht wieder ausgeliefert sein. Also floh ich. Ich lief aus der Klinik, flüchtete, suchte verzweifelt nach einem Ort, wo ich mich sammeln konnte.
Aber der Apparat ließ nicht locker. Man ließ mich keine 24 Stunden später wie einen Staatsfeind jagen. Sie kamen zu meiner Schwester. Mit voller Härte. Einsatzkräfte. Bewaffnet. Kommandos, Drohungen: „Kommen Sie raus, oder wir kommen rein!“
Ich war drinnen. Völlig unbewaffnet. In Panik. Ich hatte nichts getan. Doch sie rückten an, als wäre ich Schwerstverbrecher. Meine Frau, meine krebskranke Mutter, meine Schwester – alle wurden gefesselt, abgeführt, als wären sie Komplizen irgendeiner Tat, die nie existierte.
Als ich schließlich aufgab und die Tür öffnete, schlugen sie zu. Ich knallte mit dem Kopf gegen die Wand. Mein Rücken schmerzte, der Boden war kalt. Und während ich am Boden lag, zitternd, keuchend, völlig wehrlos, drückten sie mich zu Boden und fesselten mich erneut.
All das geschah vor meiner Familie. Vor den Menschen, die mir am wichtigsten sind. Menschen, die mich noch nie als Gefahr gesehen haben, sondern als den, der sie trägt, der immer für sie da war.
Aber für die Behörden war ich längst kein Mensch mehr. Ich war nur noch: Akte. Risiko. Objekt.
Das war der Moment, in dem mein altes Leben endgültig zerbrach.
Kapitel 16 – Fixierung: Die Hölle aus Stahl, Leder und Ohnmacht
Es gibt Erlebnisse, die hinterlassen keine sichtbaren Narben. Keine gebrochenen Knochen. Kein Blut. Und trotzdem schneiden sie tiefer ins Fleisch der Seele, als jede äußere Wunde es je könnte.
Die Fixierung war so ein Erlebnis.
Sie brachten mich also wieder in die Psychiatrie. Wieder zurück in diese kalten, sterilen Räume, die nie nach Hilfe rochen, sondern nur nach Verwaltung. Und diesmal war klar: Jetzt gab es kein Entkommen mehr.
Ich hatte mich nicht gewehrt. Ich hatte niemanden bedroht. Ich hatte nur Angst. Und trotzdem: Keine Aufnahmeuntersuchung, kein Gespräch, keine Erklärung, keine echte Diagnose. Nur der Satz: „Wir wissen ja, was bei Ihnen ist: akute Schizophrenie.“
Und dann das Kommando: „Fixieren.“
Sie schnallten mich fest. Arme. Beine. Brust. Ich konnte nicht mehr aufstehen, nicht mehr drehen, nicht mehr krümmen. Die Gurte schnitten tief in meine Gelenke. Ich lag da, wie ein Stück Fleisch auf dem Tisch. Regungslos. Wehrlos.
Es war nicht das erste Mal. Ich kannte das Gefühl. Aber jedes Mal bricht es ein weiteres Stück in dir.
Die Zeit verliert in der Fixierung jede Bedeutung. Sekunden dehnen sich zu Minuten, Minuten zu Stunden, Stunden zu einer Ewigkeit. Du starrst an die Decke, beobachtest jeden kleinen Riss im Putz. Und irgendwann beginnt dein eigenes Gehirn, mit dir zu spielen.
Was war überhaupt noch Realität? Wirst du hier wieder rauskommen?
Oder haben sie dich jetzt für immer abgeschrieben?
Der Körper begann nach kurzer Zeit zu schreien.
Meine Wirbelsäule, ohnehin durch meine Skoliose empfindlich, rebellierte gegen das starre Liegen.
Die Schultern brannten. Die Hüfte knackte bei jeder kleinsten Bewegung. Und doch: Du kannst nicht anders, als dich immer wieder minimal zu winden — einfach nur, um das Gefühl zu behalten, dass du noch existierst.
Ein Arzt kam irgendwann kurz vorbei. Warf einen flüchtigen Blick. Keine echte Frage. Keine Erklärung. Nur: „Wir beobachten Sie noch ein wenig.“
Beobachten. Nicht helfen. Beobachten, wie ein Tier im Labor.
Die Nacht zog sich endlos. Ich konnte nicht schlafen, nicht denken, nicht schreien. Nur liegen.
Und atmen. Atmen und hoffen, dass irgendwann jemand diese Gurte löst. Irgendwann. Oder auch nicht.
Die Nacht lag wie ein dicker, dunkler Nebel über mir. Ich war kaum bei Bewusstsein, driftete immer wieder zwischen Erschöpfung, Schmerz, Angst und Wegtreten. Und dann kam der Moment, in dem ich nicht länger aufschieben konnte, was jeder Mensch irgendwann muss.
Doch ich war ja fixiert. Bewegungsunfähig.
Am Abend sagte ich das ich muss aber was geschah war das er mir wortlos eine Bettflasche anbrachte. Kein Mitgefühl. Einfach nur: „Hier.“ Ich schämte mich, kämpfte mit dem Ekel vor der Situation, vor der eigenen Hilflosigkeit. Doch ich hatte keine Wahl. Ich tat, was ich tun musste.
Am nächsten Morgen dann dasselbe wieder, aber diesmal brachte man mir eine Bettpfanne. Zwei Pfleger hoben mich ruckartig hoch, schoben das kalte, starre Kunststoffstück unter meinen Rücken, als wäre ich ein leb- und willenloser Körper. Keine Rücksicht auf meine Schmerzen, meine Wirbelsäule, meine Würde. Keine Zeit für Erklärungen oder zarte Worte. Nur Routine. Verwaltung. Abfertigung.
Und ich hasste es. Ich hasste diese völlige Entwürdigung.
Aber ich konnte nichts tun.
Doch damit war es nicht vorbei.
Irgendwann — ich weiß bis heute nicht mehr, wie lange ich da schon lag, wie viel Zeit vergangen war — kam ein Pfleger wieder ins Zimmer.
Diesmal mit einem Gerät.
Ein medizinisches Sb.
Er hielt es mir hin, erklärte sachlich, man könne so „Verkrampfungen der Prostata“ und „Stauungen“ vorbeugen.
Ich sagte entschieden „Nein“.
Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht auch noch diesen letzten Rest meiner Intimsphäre verlieren.
Doch irgendwann später, als ich erneut fast bewusstlos in der Fixierung lag, kam er wieder.
Und diesmal sprach niemand mehr mit mir.
Ich konnte mich nicht wehren.
Meine Hände waren fixiert. Meine Beine ebenso.
Ich konnte den Kopf kaum drehen.
Ich fühlte nur, wie man das Gerät an mir ansetzte, wie es sich mechanisch in Bewegung setzte.
Kälte. Ekel. Scham.
Und ich konnte nichts dagegen tun.
Ich spürte jeden Bewegungsablauf der Maschine.
Ich konnte nicht entkommen.
Ich konnte nicht einmal mehr versuchen, mich innerlich zu schützen.
Gegen meinen Willen zwang mich mein Körper am Ende in den Orga..
Der Ekstase folgte sofort die Scham.
Der Pfleger entfernte das Gerät, entsorgte das Kond. mit der gefüllten Flüssigkeit, als sei es der normalste Vorgang der Welt.
Ich war wütend. Unendlich wütend.
Aber ich war auch gelähmt.
Nicht nur körperlich – auch innerlich.
Was danach folgte, war ein seltsamer Nebel.
Zuerst konnte ich mich kaum noch erinnern.
Es war, als habe mein Kopf die Erinnerung tief weggesperrt.
Wochen später erst kam Stück für Stück das Geschehen wieder hoch.
Bruchstücke, Bilder, einzelne Geräusche, Gefühle.
Bis ich irgendwann wusste, was da wirklich passiert war.
Ein sexueller Übergriff.
Kein medizinischer Vorgang.
Kein Schutz meiner Gesundheit.
Sondern ein weiterer Akt der Entmenschlichung.
Der letzte Schritt, der mir alles nahm, was an Würde noch übrig war.
Als es endlich Morgen wurde, war ich kaum noch ein Mensch.
Ich fühlte mich nicht einmal mehr wie ich selbst.
Nur wie etwas, das man irgendwo abgestellt hatte.
Ein Körper.
Ohne Rechte.
Ohne Stimme.
Kapitel 17 – Der nächste Morgen: Entmenschlicht und vergessen
Als die ersten Lichtstrahlen durch das winzige Fenster fielen, war ich längst nicht mehr richtig wach — und auch nicht mehr wirklich ohnmächtig. Ich schwebte irgendwo dazwischen. In einem Zustand, den ich später nur noch als Dissoziation beschreiben konnte. Mein Körper war da. Mein Geist war. irgendwo. Ich wurde Wach mit einem Gefühl als wurde der Geist in Körper in die Ohnmacht gerissen.
Die Gurte wurden irgendwann gelöst. Nicht sanft. Nicht vorsichtig. Einfach nur: aufgeschnallt. Ich sollte mich bewegen, sollte mich selbstständig aufrichten. Aber meine Beine gehorchten kaum. Taubheit, Kribbeln, das Blut, das in die Adern zurückströmte, wie tausend kleine Nadelstiche.
Keiner der Pfleger sagte ein Wort. Keiner fragte, wie es mir geht. Keiner sah mich wirklich an.
Der Raum war trostlos. Die Möbel abgenutzt, die Stühle verbogen, der Boden klebrig.
Selbst der Sperrmüll hätte sich geweigert, diese Stühle noch anzunehmen.
Und doch waren es die Möbel, auf die Menschen gesetzt wurden, die Hilfe suchten. Hilfe? Nein — Verwaltung.
Ein System, das Patienten nur noch verwaltet.
Die anderen Patienten bewegten sich langsam, apathisch, als würden sie auf einer Zeitlupenaufnahme ihres eigenen Lebens gefangen sein.
Man sah ihnen an: Manche waren schon lange hier. Manche hatten vielleicht schon längst aufgegeben.
Ihre Augen leer, die Blicke ins Nichts gerichtet.
Sie lebten nicht mehr. Sie wurden nur noch aufbewahrt.
Ich beobachtete das Treiben um mich herum, und ein eiskaltes Gefühl kroch in mir hoch:
Hier geht es nicht mehr um Menschen.
Hier geht es nur noch um Funktionen.
Der Mensch wird zur Akte. Zur Diagnose. Zum Verwaltungsfall.
Die Ärzte kamen irgendwann.
Schauten über Akten, nicht über Gesichter.
Ein Arzt setzte sich kurz zu mir, hielt mir irgendwelche Medikamente hin.
„Nehmen Sie das jetzt.“
Kein Gespräch. Kein Fragen. Kein Zuhören.
Ich fragte: „Was bekomme ich da?“
Die Antwort: „Neuroleptika, zur Stabilisierung. Sie brauchen das.“
Und als ich mich weigerte: „Sie wissen ja, was sonst passiert.“
Ein kaum verhülltes Drohen.
Kooperieren — oder wieder zurück in die Gurte.
Und ich wusste:
Sie konnten es jederzeit wieder tun.
Ohne Widerstand. Ohne Rechtfertigung. Ohne dass es jemanden interessiert.
Hier war ich kein Mensch mehr.
Nur noch ein Risiko. Ein Vorgang. Ein Störfall, den man besser ruhig stellt.
Kapitel 18 – Zerbrochen, aber nicht besiegt
Nach diesen Tagen in der Psychiatrie war ich nicht mehr derselbe.
Etwas in mir war endgültig zerbrochen.
Nicht zum ersten Mal in meinem Leben, aber diesmal auf eine andere, tiefere Weise.
Ich konnte zwar wieder nach Hause, aber mein Zuhause war innerlich kein sicherer Ort mehr.
Überall lauerten Erinnerungen, Flashbacks, kurze Momente, in denen ich das Gefühl hatte, wieder da zu liegen.
Die Fixierung. Das Ersticken. Die Maschinen. Der Missbrauch.
Es kamen Nächte, in denen ich schweißgebadet aufwachte, den Atem rang, obwohl ich frei atmen konnte.
Ich spürte wieder diese Kälte der Gurte auf meiner Haut, spürte die Ohnmacht, das Ausgeliefertsein.
Es genügte schon ein Geruch von Desinfektionsmittel, das Klicken eines Schlosses, das Flackern einer Neonröhre — und ich war wieder dort.
Gefangen. Hilflos. Ein Körper ohne Stimme.
Die Scham war das Schlimmste.
Ich schämte mich, obwohl ich keine Schuld trug.
Ich fühlte mich schmutzig, benutzt, abgestempelt.
Selbst gegenüber meiner Frau konnte ich lange nicht darüber sprechen.
Wie erklärt man so etwas?
Wie gesteht man ein, dass man in einem „medizinischen“ System, das eigentlich helfen sollte, zum Spielball geworden war?
Doch gleichzeitig war da auch eine neue Form von Wut in mir geboren worden.
Eine Wut, die mich nicht mehr zerstörte, sondern aufrichtete.
Die Wut darüber, wie sehr Systeme entmenschlichen können.
Die Wut über die kalte Routine, mit der Behörden und Kliniken über Menschen entscheiden.
Die Wut darüber, wie schnell Menschen mit Aktenzeichen und Diagnosen verwechselt werden.
Diese Wut wurde mein Antrieb.
Nicht, um zu hassen. Nicht, um zu zerstören. Sondern, um endlich meine Geschichte zu erzählen.
Damit andere verstehen, was hinter den Mauern dieser Kliniken wirklich passieren kann.
Damit sichtbar wird, dass es nicht nur „Unfälle“ oder „Fehler“ sind, sondern systematische Entwürdigungen.
Damit irgendwann niemand mehr diesen Weg durch die Hölle gehen muss, den ich gegangen bin.
Kapitel 19 – Die Wut wird zur Waffe
Ich stand also wieder draußen.
Frei — zumindest körperlich.
Aber innerlich war ich wie in Trümmern.
Doch dieses Mal sollte es anders werden.
Ich hatte überlebt.
Wieder einmal.
Und ich war es leid, immer nur zu schweigen.
Was mich in den Wochen nach meiner Entlassung am meisten beschäftigte, war nicht nur der Schmerz.
Es war diese entsetzliche Erkenntnis:
All das, was man mir angetan hatte, geschah mit System.
Nicht, weil jemand bösartig war.
Sondern, weil niemand mehr nachdachte.
Weil das System längst abgestumpft war.
Weil Akten wichtiger waren als Menschen.
Ich begann alles zu dokumentieren.
Jede noch so kleine Erinnerung. Jede Ungereimtheit. Jede Lüge in den Berichten. Jedes Wort in den Polizeiakten. Jede Zeile im Klinikbericht.
Ich forderte Akteneinsicht an. Ich begann Paragraphen zu studieren.
Ich kämpfte mich durch juristische Begriffe, durch Dienstvorschriften, psychiatrische Gutachten, Verwaltungsakten.
Es war zermürbend.
Immer wieder wurden Fristen verschleppt, Einsprüche ignoriert, Beschwerden abgebügelt.
„Kein Fehlverhalten erkennbar.“
„Im Rahmen der Vorschriften gehandelt.“
Diese Sätze bekam ich Dutzende Male zu lesen.
Aber ich ließ nicht locker.
Ich schrieb Dienstaufsichtsbeschwerden. Reichte Strafanzeigen ein. Beschwerte mich bei ärztlichen Kammern. Kontaktierte Patientenfürsprecher. Schrieb an den Petitionsausschuss.
Und sammelte Beweise — sorgfältig, lückenlos, mit akribischer Genauigkeit.
Der Kampf gegen die Bürokratie wurde fast so anstrengend wie die Erlebnisse selbst.
Aber ich wusste:
Wenn ich jetzt aufgebe, bleibt nur noch die Akte übrig, die das Bild zeichnet, das andere von mir entwarfen.
Doch ich wollte endlich meine eigene Geschichte erzählen.
Meine Wahrheit sollte nicht länger in Behördenakten verzerrt werden.
Und irgendwann kam tatsächlich der erste kleine Sieg:
Das Verfahren nach § 126 StGB wurde eingestellt.
Kein Gerichtsprozess. Keine Verurteilung. Es war juristisch vorbei.
Natürlich blieb trotzdem ein bitterer Beigeschmack:
Die Akten waren nicht verschwunden. Die Lügen nicht ausradiert. Die Stigmatisierung nicht aufgehoben.
Aber: Es war der erste Riss im Beton.
Und ich merkte:
Man kann kämpfen.
Man kann das System zwingen, wenigstens kleine Fehler zuzugeben — wenn man nur lange genug standhält.
Diese Erfahrung gab mir neuen Mut.
Und plötzlich wusste ich:
Es geht längst nicht mehr nur um mich. Es geht um all die anderen, die ebenfalls in diesen Mühlen zerrieben werden — nur dass ihre Stimmen niemals gehört werden.
Kapitel 20 – Der große juristische und gesellschaftliche Kampf
Die Monate vergingen, und mit jedem neuen Brief, der ins Haus flatterte, wuchs in mir diese ganz eigene Mischung aus Wut und Klarheit.
Es war keine blinde Wut mehr. Keine chaotische Verzweiflung, wie ich sie früher oft erlebt hatte.
Es war eine andere Art von Zorn: kontrolliert, eiskalt, zielgerichtet.
Ich sah inzwischen klar, wie das System funktionierte.
Wie Akten entstehen. Wie Behörden voneinander abschreiben. Wie einmal gesetzte Stempel und Diagnosen sich wie Gift durch jede neue Akte fraßen. Und wie schwer es ist, diesen Kreislauf überhaupt zu durchbrechen.
Ich hatte keinen hochbezahlten Anwalt, keine Lobby hinter mir.
Ich hatte nur meine Erfahrung, meine Dokumente, meine Erinnerungen.
Und ich hatte gelernt, jeden dieser alten Schmerzen in Munition zu verwandeln.
Ich las mich tief in Gesetze ein.
Lernte Paragraphen auswendig, wühlte mich durch Verwaltungsrichtlinien, Beschwerdewege und Verordnungen.
Manchmal saß ich bis spät in der Nacht am Schreibtisch, Akten auf dem Boden verteilt, Laptop auf dem Schoß, Notizen überall.
Ein fast schon manischer Eifer packte mich.
Ich konnte kaum schlafen, kaum abschalten, so sehr zog mich dieser Kampf hinein.
Doch diesmal nicht aus Angst.
Diesmal aus Entschlossenheit.
Ich schrieb Schriftsätze, die eigentlich ein Jurastudium vorausgesetzt hätten.
Ich formulierte Anträge, Beschwerden, Gegendarstellungen.
Ich wühlte mich durch meine alten Klinikberichte, Polizeiprotokolle, psychiatrischen Stellungnahmen.
Manche Absätze las ich zehnmal, markierte Fehler, Ungenauigkeiten, Widersprüche.
Es war, als würde ich nach und nach das Lügengebäude entblößen, das andere über mein Leben errichtet hatten.
Und dann kam immer wieder diese eine Erkenntnis, die mir innerlich das Herz zusammenschnürte:
Wie viele andere da draußen wohl dasselbe erleben mussten — nur dass sie irgendwann resignierten.
Oder zusammenbrachen.
Oder nie wieder aus der Klinik zurückkamen.
Ich wollte nie zu diesen gehören.
Nicht diesmal.
Die Behörden hatten es sich einfach gemacht:
Einmal psychisch krank abgestempelt, immer verdächtig.
Einmal Schizophrenie in den Akten — alle weiteren Diagnosen orientierten sich daran.
Kaum einer prüfte noch, ob das je wirklich gestimmt hatte.
Es wurde nicht gefragt, wie lange die Symptome fortbestanden, ob sie abgeklungen waren, ob es Entwicklung gab.
Für die Akten war ich seit 2005 schizophren. Punkt.
Dabei waren meine Symptome schon seit 2013 verschwunden.
Und doch holten mich diese alten Zeilen immer wieder ein, tauchten überall auf: beim Führerschein, bei der Waffenbehörde, bei der MPU.
Ich erlebte, wie sich Behörden gegenseitig abschrieben.
Wie Fehler sich vermehrten, sich gegenseitig bestätigten — bis sie wie „bewiesene Tatsachen“ dastanden.
Niemand fragte mehr, wer ich wirklich war.
Doch ich hatte mich verändert.
Ich hatte gelernt, gegen diesen Mechanismus anzuschreiben, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.
Nicht emotional, sondern sauber, akribisch, mit Akten, Zitaten, Rechtsgrundlagen.
Manchmal spürte ich fast so etwas wie Genugtuung, wenn ich merkte, dass ein Sachbearbeiter ins Schwimmen kam, weil ich Widersprüche sauber herausarbeitete.
Ich hatte begriffen, dass in diesem Kampf nicht der Aggressive siegt, sondern der Geduldige.
Der, der präziser ist als die, die ihn einst abstempelten.
Und dennoch:
Es zehrte an mir.
Jeder neue Schriftsatz, jeder neue Bescheid war auch ein Angriff auf meine Würde, auf meine Kraft, auf meine Nerven.
Manchmal saß ich lange da und fragte mich, wie lange ich das noch würde durchhalten können.
Aber ich wusste auch:
Wenn ich jetzt nachlasse, wird es niemand mehr für mich richten.
Die Behörden, die einst mit einem Mausklick ganze Diagnosen übernommen hatten, würden niemals freiwillig ihre Fehler zugeben.
Dafür musste ich kämpfen — für mich, für mein Leben, aber auch für all jene, die schon lange keine Stimme mehr hatten.
Und während ich kämpfte, begann ich, meine Geschichte aufzuschreiben.
Jedes Kapitel wurde zu einem Baustein meiner Verteidigung.
Nicht nur juristisch, sondern auch menschlich.
Denn am Ende geht es nicht nur um Paragraphen.
Es geht darum, endlich wieder als Mensch gesehen zu werden.
Kapitel 21 – Die bittere Wahrheit: Das System will keine Heilung
Während ich weiter meine Akten wälzte, Anträge schrieb und Beschwerden einreichte, kam mir immer häufiger ein Gedanke, der mich erschütterte — weil ich ihn anfangs gar nicht denken wollte:
Vielleicht geht es in diesem ganzen System längst gar nicht mehr um Heilung.
Vielleicht will das System gar keine Heilung.
Nicht, weil Ärzte böse wären.
Nicht, weil Beamte morgens aufstehen und überlegen, wem sie heute das Leben ruinieren.
Sondern, weil das System selbst so geworden ist.
Ein Verwaltungsapparat.
Ein riesiges, unübersichtliches Netz aus Akten, Gutachten, Diagnosen und Paragraphen.
Und wer einmal darin gefangen ist, der kommt nur sehr schwer wieder heraus.
Ich hatte es selbst erlebt:
Als es mir 2010, 2013, 2015 besser ging, fragte niemand ernsthaft nach meiner Stabilität.
Es interessierte niemanden, dass die Stimmen verschwanden.
Dass ich wieder arbeiten konnte. Dass ich mein Leben aufbaute.
In den Akten stand „Schizophrenie“ — also war ich schizophren.
Für immer.
Für die Akte war ich längst kein Mensch mehr mit Entwicklung, sondern nur noch ein Eintrag.
Die Wahrheit ist bitterer, als ich es mir eingestehen wollte:
Heilung stört das System.
Ein geheilter Patient stellt das System in Frage.
Ein Patient, der aus dem Raster fällt, gefährdet die Einfachheit, mit der Akten verwaltet werden.
Er erzeugt Arbeit, Zweifel, Nachfragen, Verantwortung.
Und so wird lieber alles beim Alten belassen.
Diagnosen bleiben bestehen, obwohl längst neue Fakten vorliegen.
Gutachter schreiben voneinander ab.
Ärzte berufen sich auf alte Berichte, um sich abzusichern.
Beamte übernehmen einfach die Diagnosen, weil eigene Prüfung zu aufwendig wäre.
Selbst das Wort „Remission“ — also ein vollständiges Nachlassen der Symptome — existiert in vielen Gutachten gar nicht erst als denkbare Option.
Stattdessen taucht es immer wieder auf:
„Chronisch, dauerhaft, anhaltend, voraussichtlich lebenslang.“
Ein Satz wie ein Todesurteil für jede Hoffnung auf ein normales Leben.
Ich war funktional, beruflich erfolgreich, stabil verheiratet, gesetzestreu, gewaltfrei.
Aber das System las nur: „Schizophren, Dro., PTBS, psychisch auffällig.“
Und manchmal, ganz selten, dachte ich in dunklen Nächten:
Vielleicht wäre ich dem System lieber gewesen, wenn ich einfach kaputt geblieben wäre.
Wenn ich dauerhaft in einer Klinik geblieben wäre, medikamentiert, verwahrt, „sicher“ verwaltet.
Denn dann hätte man sich nicht mit der Frage beschäftigen müssen, ob man einem wie mir jemals Unrecht getan hat. Doch ich war nicht bereit, diesen Platz einzunehmen.
Nicht mehr.
Ich war bereit, für mich zu kämpfen — selbst wenn der Kampf mich am Ende meine letzte Kraft kosten würde.
Und tief in mir wusste ich:
Ich kämpfe nicht nur für mich.
Ich kämpfe für all die anderen, die nie die Kraft hatten, sich gegen das System zu stellen.
Für die, die in den Akten nur noch als Zahl existieren.
Für die, die längst gebrochen worden sind.
Kapitel 22 – Mein Appell an eine blinde Gesellschaft
Ich habe viel zu lange geschwiegen.
Vielleicht aus Angst.
Vielleicht aus Scham.
Vielleicht, weil ich es selbst nicht glauben wollte.
Aber heute weiß ich:
Mein Schweigen hat dieses System mitgetragen.
Deshalb sage ich es jetzt laut:
Wir haben in diesem Land kein medizinisches Problem.
Wir haben ein gesellschaftliches Problem.
Wir haben jahrzehntelang ein Bild aufgebaut, in dem psychisch Kranke nur auf zwei Weisen existieren dürfen:
Als hilflose Opfer — oder als tickende Zeitbomben.
Wir reden von Inklusion.
Von Teilhabe.Von Rechten.
Aber in Wahrheit leben psychisch Kranke in einem unsichtbaren Lager.
Nicht hinter Mauern, sondern hinter Akten.
Wer einmal gestempelt ist, trägt den Stempel für immer.
Egal, wie stabil er wird. Egal, wie funktional. Egal, wie sehr er sich bemüht.
Und wehe, man wehrt sich.
Dann heißt es sofort:
Der ist ja uneinsichtig. Der will seine Krankheit nicht wahrhaben.
Der gefährdet sich und andere.
Was für ein perfides Spiel.
Man nennt das „Selbstwahrnehmungsstörung“ — dabei ist es in Wahrheit nur Angst, Verantwortung übernehmen zu müssen, falls der Patient tatsächlich gesünder ist, als die Akte behauptet.
Ich habe es am eigenen Leib erlebt.
Fixierungen.
Demütigungen.
Stigmatisierung.
Missbrauch.
Verlust meiner Würde.
Verlust meiner Rechte.
Und ich frage euch alle:
Wie viele noch?
Wie viele Menschen müssen wir noch in Kliniken binden, erniedrigen, zerstören?
Wie viele müssen wir noch tot schweigen, bis wir begreifen, dass unser Umgang mit psychischer Krankheit selbst längst krank ist?
Wir haben ein perfides System aufgebaut, das Verantwortung scheut wie der Teufel das Weihwasser.
Die Polizei stempelt Menschen vorsorglich als gefährlich ab, damit sie im Zweifel immer rechtzeitig gehandelt hat.
Die Psychiatrie fixiert, bevor sie versteht.
Die Justiz schützt lieber das System als den Einzelnen.
Die Politik redet von Suizidprävention, während sie den sozialen Druck immer weiter erhöht.
Und die Öffentlichkeit? Sie schaut lieber auf Killerspiele oder Canna. als auf die wahren Ursachen.
Niemand spricht aus, was längst offensichtlich ist:
Wir treiben Menschen in den Suizid, die vielleicht hätten leben können — wenn man ihnen nur einmal wirklich zugehört hätte.
Jedes Jahr sterben Tausende Menschen an Suizid.
Mehr als im Straßenverkehr, mehr als durch Gewaltverbrechen.
Aber sie tauchen in keiner großen Talkshow auf.
Sie sind nur stille Zahlen in der Statistik.
Wir haben kein Problem mit psychisch Kranken.
Wir haben ein Problem mit Gleichgültigkeit.
Wir haben ein Problem mit Kälte.
Mit Ignoranz. Mit dem ewigen Reflex, Schuld beim Einzelnen zu suchen, statt bei der Gesellschaft.
Denn es ist bequemer, einen Einzelnen zum Problem zu machen, als über unser Versagen nachzudenken.
Und dann — ja, dann reden plötzlich alle über Gewalt, wenn wieder einer zerbricht.
Aber kaum jemand fragt:
Was habt ihr ihm angetan, bevor er zerbrach?
Und genau deshalb erzähle ich meine Geschichte.
Nicht, um Schuldige zu suchen. Nicht, um Rache.Nicht, um Mitleid.
Sondern damit niemand mehr sagen kann:
„Wir haben es nicht gewusst.“
Kapitel 23 – Mein Traum von einer besseren Welt
Ich träume.
Auch nach allem, was ich erlebt habe. Vielleicht gerade deshalb.
Ich träume von einer Welt, in der der Mensch wieder zählt. Nicht seine Diagnose, nicht seine Akte, nicht seine Fehlbarkeit. Sondern der Mensch. So, wie er da steht — verletzlich, suchend, hoffend.
Ich träume von einer Gesellschaft, die endlich begreift, dass psychische Krankheiten keine Charakterfehler sind. Keine Schuld. Kein Versagen. Sondern Schicksale. Geschichten. Kämpfe, die jeder führen kann, egal wo er geboren wurde.
Ich träume von Ärzten, die wieder zuhören, bevor sie diagnostizieren. Von Psychiatern, die nicht zuerst das Rezeptblock zücken, sondern erst einmal den Stuhl daneben stellen, sich setzen, einfach fragen:
Was brauchen Sie gerade?
Ich träume von einem System, das Trauma versteht. Das weiß, dass nicht jedes auffällige Verhalten gleich Wahn bedeutet. Sondern manchmal nur Angst. Oder Schmerz. Oder die verzweifelte Suche nach Halt.
Ich träume von einem Krisensystem, das deeskaliert, bevor es eskaliert. Von Menschen, die zur Wohnung kommen, um zu helfen — nicht, um zu fixieren. Von Gesprächen statt Kommandos. Von offenen Händen statt Handschellen.
Ich träume von einem Verbot der Fixierung als Regelinstrument. Fixierung darf niemals der einfache Weg sein, den Personalnotstand zu kompensieren. Sie muss zur absoluten Ausnahme werden — nur noch dann, wenn wirklich nichts anderes mehr möglich ist. Und selbst dann: unter strengsten Regeln, mit dem Ziel, keine neuen Narben zu hinterlassen.
Ich träume von einer Psychiatrie, die nicht länger denkt:
Wer hier reinkommt, ist krank und bleibt krank.
Sondern:
Wer hier reinkommt, ist in Not — und bekommt die Hilfe, die er braucht, um irgendwann wieder zu gehen.
Ich träume von Technik, die dem Menschen dient. Von Virtual-Reality-Brillen, die in Krisen beruhigende Welten öffnen können. Von AR-Therapien, die helfen, innere Bilder neu zu schreiben, ohne Scham, ohne Gewalt, ohne neue Traumata.
Ich träume von Polizisten, die psychologische Schulung erhalten. Die nicht mit der Hand an der Waffe auftreten, sondern mit dem Wissen, dass sie einem verzweifelten Menschen gegenüberstehen — keinem Verbrecher.
Ich träume von einem Rechtssystem, das begreift, dass ein alter Stempel kein Beweis für künftige Gefährlichkeit ist. Dass Menschen sich entwickeln. Dass Heilung möglich ist. Dass Akten auch Fehler enthalten können.
Ich träume von einer Gesellschaft, die keine Angst mehr hat vor dem Wort Schizophrenie, vor dem Wort PTBS, vor dem Wort psychisch krank.
Weil sie endlich begreift:
Hinter jedem dieser Worte steht ein Mensch.
Ich träume von einer Welt, in der kein Mensch mehr den Albtraum durchlebt, den ich durchlebt habe.
Eine Welt, in der Würde nicht verhandelbar ist.
In der Mitgefühl nicht verwechselt wird mit Schwäche.
In der niemand mehr daran zerbricht, einfach nur anders zu sein.
Und ich weiß: Ich werde diese Welt vielleicht nicht mehr selbst erleben.
Aber vielleicht, eines Tages, wird ein anderer diesen Text lesen.
Ein Politiker.
Ein Richter.
Ein Polizist.
Ein Arzt.
Ein Mensch in Not.
Oder einfach jemand, der gerade beginnt zu begreifen.
Und wenn auch nur einer von ihnen dann innehält — nur für einen Moment — und fragt:
Wie hätte ich ihn behandelt?
Dann war all das hier nicht umsonst.
06.06.2025 01:41 • • 08.06.2025
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