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Kapitel X – Metall, Knochen, Licht aus: Der Tag, an dem alles zerbrach
2003, irgendwann im Frühling. Ich fuhr mit dem Motorrad Richtung Darmstadt, die Sonne tief im Rücken, das Gefühl von Geschwindigkeit und Freiheit in den Adern – das Gefühl, wenigstens in diesem Moment alles unter Kontrolle zu haben.
Was dann kam, war keine Sekunde, kein Augenblick zum Nachdenken.
Ein Auto im Gegenverkehr, Fahrer geblendet von der Sonne, sieht mich nicht, setzt zum Linksabbiegen an. Plötzlich nur noch: Metall, Licht, Bremsen, Hoffnung. Ich reiße die Maschine nach rechts, versuche zu bremsen, das Hinterrad blockiert, ich öffne wieder, will ausweichen – dann ist da nur noch dieses große Metallschild, dem ich im letzten Moment entgehe. Doch die Laterne steht daneben, und ich will nicht gegen Stahl sterben. Also versuche ich es zwischen Schild und Laterne – lande am Ende mit voller Wucht auf einem dicken, gemeißelten Stein, verliere die Kontrolle, fliege, spüre, wie mich der Sattel aushebelt.
Noch ein letztes Geräusch – das Knacken, das Krachen – und dann Stille.
Ich mache noch das Gebüsch platt, dann ist da der Baum, und plötzlich: Nichts mehr. Licht aus.
Als ich wieder wach werde, ist alles anders. Stimmen im Nebel, ein Geruch von Blut, Schweiß, Benzin. Ich höre, wie jemand sagt: „Ich bin der Notarzt.“ Später, im Hubschrauber, sagt er zu mir: „Du hattest richtig Glück, Junge.“
Glück?
Vielleicht.
Ich lebe. Aber ich bin wieder ein Stück zerbrochener als vorher. Noch ein paar Verletzungen mehr, die nie richtig heilen. Ab diesem Tag ist da ein Schmerz, der mich nie wieder verlässt – tief unten im Rücken, im Ischias, wie ein bohrender Schatten, der sich immer wieder in Erinnerung ruft, dass nichts jemals wirklich vorbei ist.
2004 – Der zweite Schlag
Kaum ein Jahr später, als hätte das Schicksal es besonders eilig, kommt der nächste Einschlag. Diesmal kein Motorrad, sondern Fahrrad – und wieder ein Auto, das abbiegt, wieder ein Moment, in dem alles auf einen Punkt zusammenschrumpft.
Diesmal rammt er mich richtig weg. Ich fliege. Kopf voraus. Und dann dieses Geräusch – ein hohles, trockenes Knacken, wie wenn man zwei Bowlingkugeln gegeneinander schlägt oder eine Kokosnuss aufbricht.
Ich erinnere mich, wie mir übel wird, wie ich Blut spucke. Dann Licht aus.
Wochenlang liege ich im Koma. Hirnblutung. Schädelbasisbruch. Meine Eltern am Bett, bereit, sich zu verabschieden, weil niemand sagen kann, ob ich jemals wieder aufwache.
Und doch – wieder überlebe ich.
Wieder kehre ich zurück.
Aber jedes Mal lasse ich ein Stück von mir zurück in diesen Trümmern aus Metall, Asphalt und Angst.
Canna. – nicht nur Flucht, sondern Überleben
Es war nicht nur der Schmerz, der mir nach diesen Unfällen blieb. Es war auch die Angst, dass der Körper, dieses ewige Schlachtfeld, nie wieder Frieden finden würde.
Canna. war nie nur Rausch. Es war meine letzte Möglichkeit, den Dauerschmerz wenigstens für ein paar Stunden zu vergessen, das Zittern in den Nerven zu beruhigen, den Phantomschmerz im Rücken und die Erinnerungen im Kopf leiser zu drehen.
Niemand, der nicht selbst in einem solchen Körper gefangen war, konnte verstehen, warum ich das brauchte. Für andere war es eine Dro.. Für mich war es manchmal das Einzige, was noch zwischen mir und dem Aufgeben stand.

Kapitel 9 – Die Reise in die Psychose
Die Zeit nach meinem ersten großen Zusammenbruch war wie ein zerbrechliches Gleichgewicht auf einer dünnen Linie. Ich lebte.
Aber mehr war es nicht.

Die innere Anspannung war wie ständiges Hintergrundrauschen.
Panikattacken, Schlafstörungen, unkontrollierbare Angstzustände blieben meine Begleiter.
Ich hatte bereits durch die Unfälle und die Operationen und die folgen Unzählige an Schmerzmittel, und war auch Schmerzmittel süchtig. Nicht nur Canna., sondern auch Tramadol, Tilidin.

Ich griff wieder häufiger und heftiger zu Canna..
Es war nie nur der Rausch.
Es war die einzige Medizin, die mich tatsächlich ein Stück weit beruhigen konnte.
Wenn ich rauchte, wurde der Lärm in meinem Kopf leiser.
Die Angst wich für kurze Stunden, das Zittern verschwand.
Doch ich wusste auch:
Das Pflaster hielt nicht ewig.
Die Dunkelheit kam immer wieder zurück.
Und dann kam jener verhängnisvolle Tag.
Es war ein Festival, ein Open-Air.
Musik, Menschen, Lichter — ein eigentlich schöner Abend.
Doch ich war nervös.
Es gab an diesem Tag kein Canna..
Die Angst war wieder voll da, der Körper unruhig, das Herz jagte wie eine aufgescheuchte Taube.
Der Suchtdruck wuchs.
Ich war müde vom Kämpfen, erschöpft von den endlosen Jahren des inneren Widerstandes.
Jemand bot mir Psilocybin-Pilze an.
„Das beruhigt. Das hilft runterkommen. Ist doch alles natürlich“, sagte er.
Und ich griff zu.
Ein dummer, verzweifelter Fehler. Komplett falsches Setting, falsche Umgebung, zu Laut, und von Feinden umgeben.
Einer, der alles veränderte.
Anfangs fühlte sich alles harmlos an.
Die Welt bekam weiche Ränder, Farben schienen wärmer, Stimmen angenehmer.
Doch dann, ganz plötzlich, kippte es.
Als würde ein Schalter umgelegt.
Ohne Vorwarnung begann mein Gehirn, die Grenzen zwischen Realität und Wahn aufzulösen.
Es begann mit kleinen Verzerrungen.
Bilder flackerten, Bewegungen schienen nachzuhängen.
Dann kamen die Stimmen.
Unzählige Stimmen.
Sie sprachen nicht laut.
Sie flüsterten.
Zischten.
Wurden langsam lauter.
Schoben sich in meine Gedanken wie dunkle Schatten, die keine Tür mehr verschlossen hielt.
Sie beleidigten mich, verhöhnten mich, drohten mir.
„Du bist Dreck.“
„Sie beobachten dich.“
„Gleich kommt jemand.“
„Du bist schuld.“
„Du hast alles zerstört.“
Und dann kamen die Bilder.
Schreckliche, grelle, entsetzliche Bilder.
Verzerrte Gesichter, bedrohliche Augen, Verfolgungsfantasien.
Die Realität löste sich vollends auf.
Ich taumelte durch die Menge.
Die Musik wummerte wie der Herzschlag einer feindlichen Maschine.
Jeder Mensch schien plötzlich ein Feind zu sein.
Alle schauten.
Alle wussten.
Alle lachten.
Die Angst packte mich wie ein eisiger Klauenhaken.
Von diesem Tag an war mein Geist ein anderes Terrain geworden.
Die Stimmen blieben.
Tage. Wochen. Monate.
Sie begleiteten mich wie ein finsterer Chor, der nicht mehr verstummte.
Es war, als hätten sich all die alten Ängste, Demütigungen, all der Schmerz und die Einsamkeit zu einem einzigen schwarzen Wesen zusammengeschlossen, das nun bei mir wohnte.
Und es hörte nie mehr auf, zu sprechen.
Ich konnte nicht mehr unterscheiden, was real war und was nicht.
Selbst banale Alltagsgeräusche wurden zu versteckten Botschaften.
Jedes vorbeifahrende Auto bedeutete Gefahr.
Jeder Blick von Passanten war ein Vorwurf.
Selbst die Straße unter meinen Füßen schien mir Fallen zu stellen.
Ich begann, nur noch auf bestimmte Linien zu treten, in der Hoffnung, dass ich so Schicksalsschläge abwenden könnte.
Meine Welt war ein Labyrinth geworden.
Ein einziges, tödliches Gleichgewicht zwischen Kontrolle und völliger Auflösung.
Doch das Schlimmste an einer Psychose ist:
Du merkst am Anfang nicht, dass du krank bist.
Du glaubst deinen eigenen Gedanken.
Du glaubst den Stimmen.
Sie werden zur neuen Realität.
Zur einzigen, die du noch kennst.
Erst viel später verstand ich, was wirklich mit mir geschah.
Aber in dieser Zeit war ich gefangen in einem Albtraum, den niemand von außen wirklich greifen konnte.
Und dann kam die Diagnose: Schizophrenie.
Die Ärzte sahen die Symptome, hörten von den Stimmen, dem Wahnerleben, den Ängsten – und die Diagnose war schnell gestellt.
Schizophrenie.
Ein einziges Wort, das in dieser Welt so viel zerstören kann.
Es war, als hätte man mir einen Stempel auf die Stirn gedrückt, der ab jetzt mein ganzes Leben begleiten sollte.
Und dennoch:
Tief in mir wusste ich schon damals — es war nicht nur eine „Störung des Denkens“.
Es war die Konsequenz von all dem Schmerz, dem Trauma, dem jahrelangen inneren Krieg.
Die Psychose war nicht plötzlich gekommen.
Sie war das Resultat eines Lebens voller Überforderung, Gewalt, Demütigung und Angst.
Und so begann mein Leben als offiziell diagnostizierter „Schizophrener“.
Ein weiterer Abgrund, in den ich erst noch richtig fallen sollte.

A


Zerbrochen Gequält Überlebt

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Kapitel 10 – Leben mit dem Stempel
Mit der Diagnose begann ein neuer Abschnitt. Doch nicht etwa Heilung, nicht etwa Hilfe. Sondern das Leben mit einem Stempel, der schwerer wog als all die Symptome selbst.
Die Psychose hatte mich damals voll im Griff. Und ja, es war Schizophrenie. Ich will daran nichts beschönigen. Die Stimmen waren real, die Bilder lebendig, die Angst allgegenwärtig. Aber das, was danach folgte, war eine andere Art von Schmerz. Ein langsames Ertrinken in den Mechanismen des Systems, in den Schubladen der Gesellschaft.
Die Behandlung lief ambulant. Medikamente wurden verordnet, Neuroleptika, die mich zwar beruhigten, aber auch betäubten. Mein Kopf wurde träge, meine Reaktionen verlangsamt, die Gefühle dumpf. Ich konnte wieder schlafen, aber es war kein erholsamer Schlaf mehr. Es war eher wie ein Ausschalten, ein künstliches Abschalten des Denkens. Die Stimmen wurden leiser, ja. Aber sie verschwanden nicht sofort. Sie flüsterten weiter aus dunklen Ecken meines Bewusstseins.
In den ersten Jahren war jeder Tag ein Kampf mit meinem eigenen Kopf. Ich lernte, die Stimmen zu ignorieren, zu relativieren. Ich begann, sie zu enttarnen, zu erkennen, dass es keine fremden Wesen waren, sondern Spiegelbilder meiner eigenen Ängste. Doch leicht war das nicht. Jeder Tag war ein Schachspiel gegen mich selbst.
Gleichzeitig begann der gesellschaftliche Teil der Erkrankung, der mir fast noch mehr zu schaffen machte als die Psychose selbst. Denn die Diagnose war nicht einfach ein medizinischer Befund. Sie war ein Etikett. Ein Aktenvermerk. Und Akten bleiben bestehen.
Plötzlich wurden Türen eng, Gespräche vorsichtiger, Chancen weniger. Egal ob bei Behörden, bei der Polizei, beim Führerschein, bei der MPU, bei Gutachtern – überall tauchte das eine Wort auf. Schizophrenie. Es war egal, dass ich funktionierte, dass ich keine Gefahr war, dass ich stabil blieb. Die Diagnose war wie ein rotes Warnschild über meinem Leben.
Man begann, mich durch Akten zu betrachten, nicht durch Gespräche. Ich wurde zum Risikofaktor, zur potenziellen Gefahr, zur Person mit psychischer Vorgeschichte. Was ich dachte, was ich sagte, zählte plötzlich weniger. Vielmehr wurden meine Worte nur noch durch den Filter der Diagnose interpretiert. War ich mal wütend? Beleg für Instabilität. Sprach ich über Ungerechtigkeit? Ausdruck einer möglichen Wahnstörung. Wollte ich meine Geschichte erzählen? Beweis einer „Krankheitsuneinsicht“.
Ich war nicht mehr Marcus, der Mensch. Ich war Marcus, der Schizophrene.
Dabei begann sich die Krankheit selbst längst zurückzuziehen. Zwischen 2008 und 2010 wurden die Stimmen langsam leiser. Die Episoden wurden seltener, die Paranoia löste sich Stück für Stück. Ich begann wieder, klarer zu denken, rationaler. Die Medikamente wurden reduziert, ich begann, mich Stück für Stück selbst zurückzuerobern. Und ab etwa 2013 waren die Stimmen endgültig verstummt. Sie waren weg. Nicht gedämpft, nicht versteckt — einfach verschwunden.
Doch die Akten blieben. Unverändert.
Ich war gesundet. Aber ich war nicht befreit.
Manchmal fragte ich mich, ob es leichter gewesen wäre, wäre die Krankheit geblieben. Denn so paradox es klingt: Ein sichtbarer Kranker wird oft fürsorglicher behandelt als einer, dem man unterstellt, seine Krankheit nur zu verleugnen. Das Stigma aber saß tief. Selbst als ich längst wieder in Ausbildung, in Arbeit, im Leben stand, blieben die Vorbehalte. Die Behördenakten hielten an ihrer Version fest. Und je länger man kämpft, je mehr man sich wehrt, desto leichter wird aus dem Kämpfer der Uneinsichtige.
Ich lernte, vorsichtig zu sein, klug zu wählen, wem ich was erzählte. Manche Freundschaften hielten, manche zerbrachen an der Angst. Partnerschaften? Lange unmöglich. Wer will schon jemanden mit solch einem Etikett?
Und doch: Ich gab nicht auf.
Ich kämpfte mich zurück in den Beruf, in die Ausbildung, in die Gesellschaft. Stück für Stück. Trotz Stempel. Trotz Vorurteile. Trotz Akten. Trotz Behörden. Trotz allem.
Die Schizophrenie hatte mich einst überrannt. Aber ich war stärker. Ich war zurück.
Doch ich wusste: Die Akten würden nie vergessen.

Kapitel 11 – Der lange Weg zurück ins Leben
Als die Stimmen endlich verstummten, war es nicht einfach vorbei. Es war, als wäre ich aus einem monatelangen Albtraum erwacht — nur um festzustellen, dass ich in einer Realität stand, die mir fremd geworden war.
Da war keine Erleichterung, kein Moment des Aufatmens, kein jubelnder Gedanke: „Jetzt bist du gesund.“
Da war nur Stille. Und Leere.
Die Jahre in der Psychose hatten Spuren hinterlassen. Nicht nur in meinem Kopf, sondern in meinem ganzen Leben. Ich war isoliert, entwöhnt vom normalen Alltag. Kontakte waren wenige geblieben, viele hatten sich abgewendet, einige hatten sich nie für meinen Kampf interessiert. Ich war nie richtig angekommen in der Welt der Gesunden, und gleichzeitig war ich längst kein Patient mehr. Ich war irgendwo dazwischen.
Was mich in dieser Zeit rettete, war keine Therapie, kein Medikament, kein Facharzt. Es war ein Ort, an dem ich vorher nie Hilfe gesucht hätte: das Tierheim.
Es begann klein, fast zufällig. Ich war auf der Suche nach einer Aufgabe. Nach irgendetwas, das mir wieder einen Tagesablauf gab, mich zwang aufzustehen, mich zwang, etwas anderes zu denken als immer nur: Was, wenn es wiederkommt?
Die Arbeit mit den Hunden war anders als alles, was ich zuvor kannte. Da war kein Misstrauen. Keine Akten. Kein Stempel. Keine Fragen nach Diagnosen. Die Tiere fragten nicht, was ich erlebt hatte. Sie wollten nur eines: Dass jemand da war. Dass jemand für sie sorgte.
120 Hunde. Füttern, versorgen, ausführen, sauber machen. Jeden Tag. Und mit jedem Tag kam etwas zurück, was ich längst verloren geglaubt hatte: ein Gefühl von Verantwortung, von Sinn, von Anerkennung — und vielleicht sogar ein Hauch von innerem Frieden.
Es war körperlich hart. Natürlich war es das. Die Gelenke schmerzten, die Wirbelsäule zog, die Spastik machte vieles anstrengend. Und doch: Der Schmerz fühlte sich anders an als der seelische Schmerz der Jahre zuvor. Dieser Schmerz hier war ehrlich. Er war der Preis dafür, gebraucht zu werden.
Die Hunde haben mich gerettet, auch wenn ich ursprünglich glaubte, ich rette sie.
Viele der Tiere waren selbst gebrochene Seelen: misshandelt, verängstigt, ausgesetzt. Und doch entwickelten sie Vertrauen. Ein Blick, ein wedelnder *beep*, ein schüchternes Anlehnen an mein Bein — das war mehr als jede Therapie es je hätte leisten können. Hier lernte ich wieder, dass Vertrauen keine Selbstverständlichkeit ist, sondern ein Geschenk, das man sich verdient.
Manchmal saß ich einfach nur im Zwinger, zwischen den Tieren, ließ sie um mich herumstreifen, spürte die Wärme ihrer Körper, das leise Hecheln, das beruhigende Gewicht eines müden Hundes, der sich an mich schmiegte. Ohne Worte. Ohne Fragen. Ohne Forderungen.
Es waren nicht die großen, dramatischen Momente, die heilten. Es war die Summe dieser kleinen Augenblicke.
Natürlich war die Arbeit nicht romantisch. Wer je 120 Hundezwinger gereinigt hat, wer bei 35 Grad im Hochsommer Eimer um Eimer ausleert, wer den Gestank von altem Futter, Kot und Desinfektionsmittel kennt, weiß, wovon ich spreche. Und doch war es dieser Dreck, der mich wieder ins Leben holte.
Der Alk., der jahrelang mein Betäubungsmittel gewesen war, spielte zu dieser Zeit noch eine kleine Rolle. Ein Amaretto im Kaffee — mehr nicht. Ich brauchte ihn noch, wie man einen alten, kaputten Verband nicht sofort abreißt, weil man Angst hat, die Wunde könnte doch wieder aufbrechen. Aber ich hielt die Kontrolle. Ich lernte wieder, Maß zu halten.
Es war auch die Zeit, in der ich begann, ernsthaft über einen beruflichen Wiedereinstieg nachzudenken. Ich wusste, dass ich wieder zurück wollte in meinen alten Bereich, zurück in die IT, zurück zu den Maschinen, zu den Systemen. Denn Maschinen hatten mich nie verurteilt. Sie funktionierten, sie waren berechenbar — anders als Menschen.
2010 schließlich fasste ich den Mut: Ich begann die Ausbildung zum IT-Systemelektroniker. Mit fast 30 war ich plötzlich der Onkel unter lauter Teenagern. Die anderen Azubis waren meist 16, 17 — ich war doppelt so alt. Aber ich nahm es mit Humor. Und, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, spürte ich auch ein wenig Respekt von anderen.
In der Berufsschule war ich plötzlich nicht mehr der Außenseiter, nicht mehr der Geprügelte, nicht der Gemobbte. Vielleicht, weil ich älter war. Vielleicht, weil ich ein wenig Lebenserfahrung ausstrahlte. Vielleicht, weil ich gelernt hatte, meine Geschichte nicht jedem zu erzählen — und doch offen genug war, um keine Angst mehr vor meiner Vergangenheit zu haben.
Es gab Momente, in denen ich sogar zum ruhigen Pol wurde. Wenn Jüngere sich stritten, wenn jemand auf dumme Gedanken kam, war ich es, der schlichtete. Vielleicht, weil ich beide Seiten kannte: Die, die zuschlagen, und die, die geprügelt werden. Und weil ich wusste, dass Gewalt niemals wirklich siegt.
Ich funktionierte wieder. Mehr noch: Ich lebte wieder. Nicht mehr als Schatten meiner selbst, sondern als Mensch, der seine Geschichte trug — aber von ihr nicht mehr erdrückt wurde.
Der Weg hierher war lang gewesen. Und ich wusste: Er würde noch lange nicht zu Ende sein.

Kapitel 12 – Neustart zwischen IT, Alltag und alten Schatten
Die bestandene Prüfung zum IT-Systemelektroniker war mehr als nur ein Zettel in meiner Hand. Sie war für mich so etwas wie eine Eintrittskarte zurück in eine Welt, von der ich längst geglaubt hatte, dass ich in ihr keinen Platz mehr finden würde.
Mit dem Abschluss in der Tasche bewarb ich mich. Ich brauchte keine langen Umwege, keine endlosen Bewerbungsmarathons. Vielleicht hatte ich einfach Glück. Vielleicht aber auch das, was man irgendwann einmal „Lebensleistung“ nennt. Jedenfalls erhielt ich eine Stelle in der IT-Abteilung der Reha-Klinik.
Ausgerechnet eine Klinik.
Ich, der jahrelang selbst Patient war, der diese Welt besser kannte als ihm lieb war — stand jetzt auf der anderen Seite. Nicht als Patient. Nicht als Akte. Sondern als Mitarbeiter, als jemand, der die Server am Laufen hielt, der die Netzwerke pflegte, die Rechner einrichtete, die Software reparierte.
Ich war wichtig.
Meine Aufgabe war es, die Systeme am Leben zu halten, auf denen die Diagnosen, die Medikamente, die Gutachten liefen. Ausgerechnet ich, der all diese Formulare selbst so oft in Händen von Fremden gesehen hatte, sorgte nun dafür, dass sie gespeichert, gesichert und abrufbar blieben.
Es war eine paradoxe Art von Genugtuung. Und gleichzeitig eine tägliche Gratwanderung.
Denn natürlich schwang immer dieser leise, giftige Gedanke mit: „Wüssten sie, wen sie da eigentlich eingestellt haben...?“
Die Vergangenheit war nicht gelöscht. Die Akten existierten weiter. Die Diagnosen standen schwarz auf weiß irgendwo gespeichert — auf Servern, die ich selbst betreute. Doch solange ich funktionierte, solange ich meine Arbeit tat, fragte niemand nach. Vielleicht auch, weil ich meinen Job gut machte. Sehr gut sogar.
Ich wusste, wann ein Server zickt, bevor andere es bemerkten. Ich konnte stundenlang Kabel verlegen, Netzwerke neu strukturieren, Fehler suchen, die sonst keiner fand. Ich war der Mann für die Probleme, die keiner lösen wollte. Und ich löste sie.
Doch innerlich blieb ich wachsam.
Die alten Dämonen schlummerten. Die Angst, dass irgendwann doch wieder alles kippen könnte, dass irgendein neuer Behördenbrief mich zurückholen würde in die Welt der Psychiatrien, Kliniken, Zwangseinweisungen, blieb wie ein dünner Schleier über allem.
Nach einigen Jahren in der Reha-Klinik kam der nächste berufliche Schritt. Ich wechselte zu einem IT-Dienstleister im Logistikbereich. Größere Strukturen, neue Herausforderungen. Und ich wuchs hinein. Ich konnte liefern, konnte Verantwortung übernehmen, war plötzlich in Meetings, an großen Projekten beteiligt, betreute ganze Systeme.
Und ich hielt durch. Ich funktionierte.
Und dennoch: Die Last der Vergangenheit begleitete mich leise weiter. Schlafstörungen blieben mein heimlicher Begleiter. Ich gewöhnte mich daran, mit vier, fünf Stunden Schlaf auszukommen. Ich gewöhnte mich daran, immer auf Standby zu sein.
So lebte ich. Funktionierend. Arbeitend. Überlebend.
Ich hatte 2 Wohnungen, eine in der ich mich eingerichtet hatte, und eine für die Arbeit. Nicht einmal eine Küche, Ein Bett und dusche, fertig. Ich bin zu den Wochenenden nach Hause, leider manchmal nicht einmal die.
2015 — es war eines der wenigen Jahre, die so etwas wie Hoffnung brachten. In einem Moment, der fast schon unscheinbar begann, lernte ich meine Frau kennen. Sie war anders als die Frauen, die ich bis dahin getroffen hatte. Ruhig. Vernünftig. Vernünftig fast schon mehr, als mir manchmal guttat.
Aber vielleicht war es genau das, was mich anzog: Stabilität. Berechenbarkeit. Keine Dramen. Kein Mitleid. Sondern einfach jemand, der mich nahm, wie ich war.
Wir heirateten im Mai 2016.
Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, wirklich angekommen zu sein. In einem Leben, das fast schon normal wirkte.
Doch ich wusste, dass diese Normalität auf wackeligen Fundamenten stand.
Denn die Schatten, die Wunden, die Erinnerungen — sie schliefen nie ganz.

Kapitel 13 – Metall im Mund, Hölle im Hals: Der Weg zur Kieferoperation
Es begann 2003 – eigentlich ganz harmlos, fast schon routinemäßig. Die ersten Termine beim Kieferorthopäden. Abdrücke, Röntgenbilder, Ausmessungen. Niemand sprach damals von einer lebensverändernden Operation. Noch nicht. Nur davon, dass mein Kiefer „korrigiert“ werden müsse. Ein rein funktionaler Eingriff – so klang es zumindest.
Es begann mit losen Apparaturen. Dann kamen die festen Spangen. Erst im Oberkiefer, dann auch unten. Bald darauf: Gummizüge, die von oben nach unten gespannt wurden – mit jeder Bewegung zogen sie an meinem Gesicht, an meinen Nerven, an meiner Geduld.
Die Schmerzen waren konstant. Druck auf die Zähne, auf den Gaumen, auf den Kopf. Und die Gaumenspange? Ein Folterinstrument. Metall in der Mitte des Himmels. Ich sprach undeutlich, konnte kaum essen. Mein gesamter Alltag wurde vom Zustand meines Mundes bestimmt. Jeder Biss, jedes Wort erinnerte mich daran: Du bist falsch gebaut – und man wird es reparieren.
Dann kam das Jahr 2007: die erste Operation. Noch ein kleiner Eingriff, vorbereitend, korrigierend. Ich war nervös, aber bereit. Die Ärzte wirkten ruhig, zuversichtlich. Sie hatten Routine – ich nicht. Aber ich machte mit. Ich wollte, dass es endlich besser wird.
2008 dann der große Tag. Die Hauptoperation. Eine sogenannte bimaxilläre Umstellungsosteotomie – das bedeutet: Ober- und Unterkiefer werden chirurgisch durchtrennt, verschoben, neu ausgerichtet, mit Platten und Schrauben fixiert. Knochen werden gesägt, verschoben, stabilisiert. Wochenlang vorher hatte man mich vorbereitet. Ich wusste, dass es heftig werden würde.
Aber niemand – wirklich niemand – hatte mich auf das vorbereitet, was dann geschah.
Direkt nach der OP, noch im Aufwachraum, mit fest verschlossenen Kiefern, überall Drähte und Gummis, mit Schläuchen in der Nase, dem ganzen Gesicht geschwollen und bewegungsunfähig – da passierte es:
Ich musste mich übergeben.
Ein Reflex. Unerwartet. Unkontrollierbar.
Doch mein Mund war zu.
Meine Nase war verstopft.
Nichts konnte raus.
Ich erlebte den Erstickungstod.
Bei vollem Bewusstsein.
Ich fühlte, wie mir das Erbrochene in den Hals lief, wie ich würgte, kämpfte, mich wand – vergeblich. Ich konnte nicht atmen. Nicht husten. Nicht schreien. Nichts. Nur Panik. Absolute, tierische, *beep* Panik. Ich war eingesperrt in meinem eigenen Schädel. Mein Körper verkrampfte, zitterte, zuckte. Es war, als würde ich unter Wasser ertrinken – nur dass das Wasser aus meinem eigenen Inneren kam.
Dann wurde es schwarz.
Als ich wieder zu mir kam, war der Schmerz unfassbar. Ein Arzt über mir. Ein Schlauch in meinem Hals, der das Erbrochene absaugte. Ich war völlig entkräftet, völlig orientierungslos. Ich hörte später: Er war Sekunden davor gewesen, mir die Luftröhre aufzuschneiden. Eine Nottracheotomie. Ein Schnitt in den Hals, um zu beatmen. Noch ein Atemzug später – und ich hätte es nicht überlebt.
Ich überlebte.
Aber dieser Moment – dieser Kampf um jeden Atemzug, diese absolute Hilflosigkeit – ist geblieben.
Er hat sich eingebrannt.
Bis heute.
Und genau dieser Moment ist es, der meine schlimmsten Flashbacks auslöst. Nicht die Klinik, nicht die Fixierung – sondern die Zahnhygiene.
Der Moment, wenn ich eine Zahnbürste im Mund habe.
Wenn sich Schaum bildet.
Wenn ich den Würgereiz spüre.
Wenn ich das Gefühl habe, nicht mehr atmen zu können.
Dann ist alles wieder da.
2009 folgte noch eine Nachoperation. Wieder Schmerzen. Wieder Schwellung. Wieder Heilung. Aber nichts – nichts – hat sich je so tief in meine Erinnerung gegraben wie dieser Moment zwischen Leben und Tod in der Aufwachstation.

Kapitel 14 – Der Wendepunkt: Verlust, Krankheit und das Wiederaufflammen alter Ängste
Es gibt im Leben Momente, auf die bist du nie vorbereitet. Nicht einmal, wenn du schon alles Mögliche erlebt hast. Nicht einmal, wenn du dachtest, dass dich nichts mehr brechen kann. Beruflich hatte ich mich weiter entwickelt. 2 weitere Arbeitgeber, Fortbildungen, Zertifikate. Alles bestens!
Dann kam er, der Tag.
Der 15. März 2023 war so ein Tag. Der Tag, an dem wir unser Baby verloren.
Wir hatten Hoffnung gehabt. Vielleicht zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte es sich an, als könnte aus all dem Schmerz doch noch etwas Gutes entstehen. Ich hatte mich gefreut. Mehr, als ich mir selbst eingestehen wollte. Vielleicht auch, weil ich glaubte, dass endlich eine neue Zeit beginnt. Eine, in der ich nicht mehr nur trage, sondern auch selbst wachsen kann.
Doch plötzlich war alles vorbei. Ohne Vorwarnung. Ohne Chance. Nur Leere.
Es war kein Schmerz wie die anderen, die ich kannte. Keine Schläge, keine Fixierung, kein Klinikbett. Sondern etwas viel Grausameres: dieser stille, kalte, bohrende Schmerz, der nicht aufhört, sondern einfach bleibt. Wie ein schwarzes Loch, das einem ein Stück der eigenen Seele herausschneidet.
Und kaum dass ich selbst noch aufrecht stand, traf es meine Frau.
Diagnose: Schizophrenie.
Die Ironie dieser Diagnose war fast zynisch. Ich, der sein halbes Leben mit dem Stigma dieser Krankheit kämpfen musste, stand nun auf der anderen Seite. Nicht als Patient, sondern als Partner. Als derjenige, der jetzt tragen sollte.
Ich funktionierte wieder. Nahm alle Belastung auf mich. Haushalt, Arbeit, Arzttermine, Medikamente, Gespräche mit dem Psychiater. Immer wieder sprach ich mit ihm. Immer wieder spürte ich, dass er nicht wirklich verstand. Er sah Tabellen, Symptome, Medikamente. Ich sah einen Menschen, den ich liebte. Einen Menschen, der dieselbe Hölle betrat, die ich selbst so gut kannte.
Es gab dunkle Nächte in dieser Zeit. Nächte, in denen ich selbst wieder an meine Grenzen kam. In denen ich zitternd am Küchentisch saß, während sie schlief. Nächte, in denen ich mich fragte, wie viel ein Mensch überhaupt tragen kann, bevor er zerbricht.
Und doch schafften wir es. Irgendwie. Schon nach zehn Monaten war sie wieder stabil, nach einem Jahr zurück im Job. Ich war stolz auf sie. Wirklich stolz. Doch der Preis, den ich innerlich zahlte, wuchs.
Die Behörden wurden in dieser Zeit nicht leiser. Im Gegenteil. Immer neue Schreiben, immer neue Nachfragen. Die alten Akten lebten längst ihr eigenes Leben. Egal, was ich erklärte. Egal, wie sehr ich funktionierte. In den Formularen war ich immer noch der: Psychisch auffällig. Dro.. Schizophrenie. Es war, als wären meine Worte bedeutungslos, weil die Vergangenheit lauter sprach.
Und tief in mir wusste ich: Der nächste Sturm würde kommen.
Es war nur eine Frage der Zeit.

Kapitel 15 – Der Tag, an dem alles kippt: November 2024
Es gibt diese Momente im Leben, wo man spürt: Jetzt bricht etwas, was man nie wieder ganz reparieren kann. Für mich war dieser Moment der November 2024.
Die Wochen davor waren schon ein einziges Nervenbündel. Post vom Amt. Briefe von der Polizei. Immer neue Fragen, immer dieselben Akten, die längst nicht mehr mit der Realität zu tun hatten. Ich hatte mehrfach selbst die Polizei kontaktiert, versucht, proaktiv zu sein. Ich wollte deeskalieren, wollte nicht wieder Opfer von Missverständnissen werden. Doch ich merkte: Die Mühlen waren längst angelaufen. Ich war für sie längst wieder Aktenzeichen, potenzielle Gefahr, Störfaktor.
Und dann kam der Tag, der alles zum Kippen brachte.
Es war kein lautes Drama. Kein Einsatzkommando mit Blaulicht und Rammbock vor meiner Haustür. Nein, sie warteten einfach, bis ich nichts ahnte. Ich war im Auto unterwegs, die Gedanken kreisten wie so oft um hundert Dinge gleichzeitig. Und dann plötzlich – aus dem Nichts – standen sie da. Die Polizei. Kein Wort, keine Erklärung. Sie zogen mich aus dem Fahrzeug, legten mir Handschellen an, nahmen mich einfach mit.
Abgeführt. Wie ein Krimineller. Ohne dass ich wusste, was eigentlich passiert war.
In den Berichten, die später geschrieben wurden, liest sich alles völlig anders. Dort hieß es, ich hätte bei einem Anruf selbst Gewalt angekündigt. Hätte gedroht, mich und andere zu gefährden, von Suizid gesprochen, von Sprengstoff geredet. Ein gefährlicher Mann, so die Akten. Ein Mann, der dringend gestoppt werden musste.
Aber die Wahrheit war eine ganz andere.
Ja, ich hatte telefoniert. Ja, ich war sarkastisch gewesen. Ja, ich war verzweifelt. Ich hatte gesagt: „Wenn ihr unbedingt eskalieren müsst…“ – aber das war keine Drohung. Es war Resignation. Müdigkeit. Eine Mischung aus Wut, Enttäuschung und dem Wissen, dass sowieso niemand mehr zuhört. Ich hatte keine Waffen gezogen, keine Pläne geschmiedet, keine Gefahr dargestellt.
Aber genau diese eine unglückliche Formulierung reichte. Ab da gab es kein Zurück mehr. Die Maschinerie lief.
Ich kam direkt in die Psychiatrie. Wieder dieser sterile Gang, diese kalten Türen, das alte Gefühl der Ohnmacht. Kaum angekommen, keine richtige Anamnese, keine Gespräche auf Augenhöhe. Die Ärztin sah mich kaum an. Die Diagnose stand quasi schon vor meinem ersten Wort fest: Schizophrenie.
Mir wurde schlagartig klar, wohin das führen würde. Ich kannte das Spiel. Ich wusste, was jetzt kommt. Ich hatte es schon erlebt.
Und dann überkam mich eine Panik, wie ich sie nur aus meinen schlimmsten Erinnerungen kannte. Die Bilder flackerten vor meinem inneren Auge: die Fixierungen, die Erniedrigungen, die völlige Hilflosigkeit. Ich konnte nicht bleiben. Nicht wieder ausgeliefert sein. Also floh ich. Ich lief aus der Klinik, flüchtete, suchte verzweifelt nach einem Ort, wo ich mich sammeln konnte.
Aber der Apparat ließ nicht locker. Man ließ mich keine 24 Stunden später wie einen Staatsfeind jagen. Sie kamen zu meiner Schwester. Mit voller Härte. Einsatzkräfte. Bewaffnet. Kommandos, Drohungen: „Kommen Sie raus, oder wir kommen rein!“
Ich war drinnen. Völlig unbewaffnet. In Panik. Ich hatte nichts getan. Doch sie rückten an, als wäre ich Schwerstverbrecher. Meine Frau, meine krebskranke Mutter, meine Schwester – alle wurden gefesselt, abgeführt, als wären sie Komplizen irgendeiner Tat, die nie existierte.
Als ich schließlich aufgab und die Tür öffnete, schlugen sie zu. Ich knallte mit dem Kopf gegen die Wand. Mein Rücken schmerzte, der Boden war kalt. Und während ich am Boden lag, zitternd, keuchend, völlig wehrlos, drückten sie mich zu Boden und fesselten mich erneut.
All das geschah vor meiner Familie. Vor den Menschen, die mir am wichtigsten sind. Menschen, die mich noch nie als Gefahr gesehen haben, sondern als den, der sie trägt, der immer für sie da war.
Aber für die Behörden war ich längst kein Mensch mehr. Ich war nur noch: Akte. Risiko. Objekt.
Das war der Moment, in dem mein altes Leben endgültig zerbrach.

Kapitel 16 – Fixierung: Die Hölle aus Stahl, Leder und Ohnmacht
Es gibt Erlebnisse, die hinterlassen keine sichtbaren Narben. Keine gebrochenen Knochen. Kein Blut. Und trotzdem schneiden sie tiefer ins Fleisch der Seele, als jede äußere Wunde es je könnte.
Die Fixierung war so ein Erlebnis.
Sie brachten mich also wieder in die Psychiatrie. Wieder zurück in diese kalten, sterilen Räume, die nie nach Hilfe rochen, sondern nur nach Verwaltung. Und diesmal war klar: Jetzt gab es kein Entkommen mehr.
Ich hatte mich nicht gewehrt. Ich hatte niemanden bedroht. Ich hatte nur Angst. Und trotzdem: Keine Aufnahmeuntersuchung, kein Gespräch, keine Erklärung, keine echte Diagnose. Nur der Satz: „Wir wissen ja, was bei Ihnen ist: akute Schizophrenie.“
Und dann das Kommando: „Fixieren.“
Sie schnallten mich fest. Arme. Beine. Brust. Ich konnte nicht mehr aufstehen, nicht mehr drehen, nicht mehr krümmen. Die Gurte schnitten tief in meine Gelenke. Ich lag da, wie ein Stück Fleisch auf dem Tisch. Regungslos. Wehrlos.
Es war nicht das erste Mal. Ich kannte das Gefühl. Aber jedes Mal bricht es ein weiteres Stück in dir.
Die Zeit verliert in der Fixierung jede Bedeutung. Sekunden dehnen sich zu Minuten, Minuten zu Stunden, Stunden zu einer Ewigkeit. Du starrst an die Decke, beobachtest jeden kleinen Riss im Putz. Und irgendwann beginnt dein eigenes Gehirn, mit dir zu spielen.
Was war überhaupt noch Realität? Wirst du hier wieder rauskommen?
Oder haben sie dich jetzt für immer abgeschrieben?
Der Körper begann nach kurzer Zeit zu schreien.
Meine Wirbelsäule, ohnehin durch meine Skoliose empfindlich, rebellierte gegen das starre Liegen.
Die Schultern brannten. Die Hüfte knackte bei jeder kleinsten Bewegung. Und doch: Du kannst nicht anders, als dich immer wieder minimal zu winden — einfach nur, um das Gefühl zu behalten, dass du noch existierst.
Ein Arzt kam irgendwann kurz vorbei. Warf einen flüchtigen Blick. Keine echte Frage. Keine Erklärung. Nur: „Wir beobachten Sie noch ein wenig.“
Beobachten. Nicht helfen. Beobachten, wie ein Tier im Labor.
Die Nacht zog sich endlos. Ich konnte nicht schlafen, nicht denken, nicht schreien. Nur liegen.
Und atmen. Atmen und hoffen, dass irgendwann jemand diese Gurte löst. Irgendwann. Oder auch nicht.
Die Nacht lag wie ein dicker, dunkler Nebel über mir. Ich war kaum bei Bewusstsein, driftete immer wieder zwischen Erschöpfung, Schmerz, Angst und Wegtreten. Und dann kam der Moment, in dem ich nicht länger aufschieben konnte, was jeder Mensch irgendwann muss.
Doch ich war ja fixiert. Bewegungsunfähig.
Am Abend sagte ich das ich muss aber was geschah war das er mir wortlos eine Bettflasche anbrachte. Kein Mitgefühl. Einfach nur: „Hier.“ Ich schämte mich, kämpfte mit dem Ekel vor der Situation, vor der eigenen Hilflosigkeit. Doch ich hatte keine Wahl. Ich tat, was ich tun musste.
Am nächsten Morgen dann dasselbe wieder, aber diesmal brachte man mir eine Bettpfanne. Zwei Pfleger hoben mich ruckartig hoch, schoben das kalte, starre Kunststoffstück unter meinen Rücken, als wäre ich ein leb- und willenloser Körper. Keine Rücksicht auf meine Schmerzen, meine Wirbelsäule, meine Würde. Keine Zeit für Erklärungen oder zarte Worte. Nur Routine. Verwaltung. Abfertigung.
Und ich hasste es. Ich hasste diese völlige Entwürdigung.
Aber ich konnte nichts tun.
Doch damit war es nicht vorbei.
Irgendwann — ich weiß bis heute nicht mehr, wie lange ich da schon lag, wie viel Zeit vergangen war — kam ein Pfleger wieder ins Zimmer.
Diesmal mit einem Gerät.
Ein medizinisches Sb.
Er hielt es mir hin, erklärte sachlich, man könne so „Verkrampfungen der Prostata“ und „Stauungen“ vorbeugen.
Ich sagte entschieden „Nein“.
Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht auch noch diesen letzten Rest meiner Intimsphäre verlieren.
Doch irgendwann später, als ich erneut fast bewusstlos in der Fixierung lag, kam er wieder.
Und diesmal sprach niemand mehr mit mir.
Ich konnte mich nicht wehren.
Meine Hände waren fixiert. Meine Beine ebenso.
Ich konnte den Kopf kaum drehen.
Ich fühlte nur, wie man das Gerät an mir ansetzte, wie es sich mechanisch in Bewegung setzte.
Kälte. Ekel. Scham.
Und ich konnte nichts dagegen tun.
Ich spürte jeden Bewegungsablauf der Maschine.
Ich konnte nicht entkommen.
Ich konnte nicht einmal mehr versuchen, mich innerlich zu schützen.
Gegen meinen Willen zwang mich mein Körper am Ende in den Orga..
Der Ekstase folgte sofort die Scham.
Der Pfleger entfernte das Gerät, entsorgte das Kond. mit der gefüllten Flüssigkeit, als sei es der normalste Vorgang der Welt.
Ich war wütend. Unendlich wütend.
Aber ich war auch gelähmt.
Nicht nur körperlich – auch innerlich.
Was danach folgte, war ein seltsamer Nebel.
Zuerst konnte ich mich kaum noch erinnern.
Es war, als habe mein Kopf die Erinnerung tief weggesperrt.
Wochen später erst kam Stück für Stück das Geschehen wieder hoch.
Bruchstücke, Bilder, einzelne Geräusche, Gefühle.
Bis ich irgendwann wusste, was da wirklich passiert war.
Ein sexueller Übergriff.
Kein medizinischer Vorgang.
Kein Schutz meiner Gesundheit.
Sondern ein weiterer Akt der Entmenschlichung.
Der letzte Schritt, der mir alles nahm, was an Würde noch übrig war.

Als es endlich Morgen wurde, war ich kaum noch ein Mensch.
Ich fühlte mich nicht einmal mehr wie ich selbst.
Nur wie etwas, das man irgendwo abgestellt hatte.
Ein Körper.
Ohne Rechte.
Ohne Stimme.

Kapitel 17 – Der nächste Morgen: Entmenschlicht und vergessen
Als die ersten Lichtstrahlen durch das winzige Fenster fielen, war ich längst nicht mehr richtig wach — und auch nicht mehr wirklich ohnmächtig. Ich schwebte irgendwo dazwischen. In einem Zustand, den ich später nur noch als Dissoziation beschreiben konnte. Mein Körper war da. Mein Geist war... irgendwo. Ich wurde Wach mit einem Gefühl als wurde der Geist in Körper in die Ohnmacht gerissen.
Die Gurte wurden irgendwann gelöst. Nicht sanft. Nicht vorsichtig. Einfach nur: aufgeschnallt. Ich sollte mich bewegen, sollte mich selbstständig aufrichten. Aber meine Beine gehorchten kaum. Taubheit, Kribbeln, das Blut, das in die Adern zurückströmte, wie tausend kleine Nadelstiche.
Keiner der Pfleger sagte ein Wort. Keiner fragte, wie es mir geht. Keiner sah mich wirklich an.
Der Raum war trostlos. Die Möbel abgenutzt, die Stühle verbogen, der Boden klebrig.
Selbst der Sperrmüll hätte sich geweigert, diese Stühle noch anzunehmen.
Und doch waren es die Möbel, auf die Menschen gesetzt wurden, die Hilfe suchten. Hilfe? Nein — Verwaltung.
Ein System, das Patienten nur noch verwaltet.
Die anderen Patienten bewegten sich langsam, apathisch, als würden sie auf einer Zeitlupenaufnahme ihres eigenen Lebens gefangen sein.
Man sah ihnen an: Manche waren schon lange hier. Manche hatten vielleicht schon längst aufgegeben.
Ihre Augen leer, die Blicke ins Nichts gerichtet.
Sie lebten nicht mehr. Sie wurden nur noch aufbewahrt.
Ich beobachtete das Treiben um mich herum, und ein eiskaltes Gefühl kroch in mir hoch:
Hier geht es nicht mehr um Menschen.
Hier geht es nur noch um Funktionen.
Der Mensch wird zur Akte. Zur Diagnose. Zum Verwaltungsfall.
Die Ärzte kamen irgendwann.
Schauten über Akten, nicht über Gesichter.
Ein Arzt setzte sich kurz zu mir, hielt mir irgendwelche Medikamente hin.
„Nehmen Sie das jetzt.“
Kein Gespräch. Kein Fragen. Kein Zuhören.
Ich fragte: „Was bekomme ich da?“
Die Antwort: „Neuroleptika, zur Stabilisierung. Sie brauchen das.“
Und als ich mich weigerte: „Sie wissen ja, was sonst passiert.“
Ein kaum verhülltes Drohen.
Kooperieren — oder wieder zurück in die Gurte.
Und ich wusste:
Sie konnten es jederzeit wieder tun.
Ohne Widerstand. Ohne Rechtfertigung. Ohne dass es jemanden interessiert.
Hier war ich kein Mensch mehr.
Nur noch ein Risiko. Ein Vorgang. Ein Störfall, den man besser ruhig stellt.

Kapitel 18 – Zerbrochen, aber nicht besiegt
Nach diesen Tagen in der Psychiatrie war ich nicht mehr derselbe.
Etwas in mir war endgültig zerbrochen.
Nicht zum ersten Mal in meinem Leben, aber diesmal auf eine andere, tiefere Weise.
Ich konnte zwar wieder nach Hause, aber mein Zuhause war innerlich kein sicherer Ort mehr.
Überall lauerten Erinnerungen, Flashbacks, kurze Momente, in denen ich das Gefühl hatte, wieder da zu liegen.
Die Fixierung. Das Ersticken. Die Maschinen. Der Missbrauch.
Es kamen Nächte, in denen ich schweißgebadet aufwachte, den Atem rang, obwohl ich frei atmen konnte.
Ich spürte wieder diese Kälte der Gurte auf meiner Haut, spürte die Ohnmacht, das Ausgeliefertsein.
Es genügte schon ein Geruch von Desinfektionsmittel, das Klicken eines Schlosses, das Flackern einer Neonröhre — und ich war wieder dort.
Gefangen. Hilflos. Ein Körper ohne Stimme.
Die Scham war das Schlimmste.
Ich schämte mich, obwohl ich keine Schuld trug.
Ich fühlte mich schmutzig, benutzt, abgestempelt.
Selbst gegenüber meiner Frau konnte ich lange nicht darüber sprechen.
Wie erklärt man so etwas?
Wie gesteht man ein, dass man in einem „medizinischen“ System, das eigentlich helfen sollte, zum Spielball geworden war?
Doch gleichzeitig war da auch eine neue Form von Wut in mir geboren worden.
Eine Wut, die mich nicht mehr zerstörte, sondern aufrichtete.
Die Wut darüber, wie sehr Systeme entmenschlichen können.
Die Wut über die kalte Routine, mit der Behörden und Kliniken über Menschen entscheiden.
Die Wut darüber, wie schnell Menschen mit Aktenzeichen und Diagnosen verwechselt werden.
Diese Wut wurde mein Antrieb.
Nicht, um zu hassen. Nicht, um zu zerstören. Sondern, um endlich meine Geschichte zu erzählen.
Damit andere verstehen, was hinter den Mauern dieser Kliniken wirklich passieren kann.
Damit sichtbar wird, dass es nicht nur „Unfälle“ oder „Fehler“ sind, sondern systematische Entwürdigungen.
Damit irgendwann niemand mehr diesen Weg durch die Hölle gehen muss, den ich gegangen bin.

Kapitel 19 – Die Wut wird zur Waffe
Ich stand also wieder draußen.
Frei — zumindest körperlich.
Aber innerlich war ich wie in Trümmern.
Doch dieses Mal sollte es anders werden.
Ich hatte überlebt.
Wieder einmal.
Und ich war es leid, immer nur zu schweigen.
Was mich in den Wochen nach meiner Entlassung am meisten beschäftigte, war nicht nur der Schmerz.
Es war diese entsetzliche Erkenntnis:
All das, was man mir angetan hatte, geschah mit System.
Nicht, weil jemand bösartig war.
Sondern, weil niemand mehr nachdachte.
Weil das System längst abgestumpft war.
Weil Akten wichtiger waren als Menschen.
Ich begann alles zu dokumentieren.
Jede noch so kleine Erinnerung. Jede Ungereimtheit. Jede Lüge in den Berichten. Jedes Wort in den Polizeiakten. Jede Zeile im Klinikbericht.
Ich forderte Akteneinsicht an. Ich begann Paragraphen zu studieren.
Ich kämpfte mich durch juristische Begriffe, durch Dienstvorschriften, psychiatrische Gutachten, Verwaltungsakten.
Es war zermürbend.
Immer wieder wurden Fristen verschleppt, Einsprüche ignoriert, Beschwerden abgebügelt.
„Kein Fehlverhalten erkennbar.“
„Im Rahmen der Vorschriften gehandelt.“
Diese Sätze bekam ich Dutzende Male zu lesen.
Aber ich ließ nicht locker.
Ich schrieb Dienstaufsichtsbeschwerden. Reichte Strafanzeigen ein. Beschwerte mich bei ärztlichen Kammern. Kontaktierte Patientenfürsprecher. Schrieb an den Petitionsausschuss.
Und sammelte Beweise — sorgfältig, lückenlos, mit akribischer Genauigkeit.
Der Kampf gegen die Bürokratie wurde fast so anstrengend wie die Erlebnisse selbst.
Aber ich wusste:
Wenn ich jetzt aufgebe, bleibt nur noch die Akte übrig, die das Bild zeichnet, das andere von mir entwarfen.
Doch ich wollte endlich meine eigene Geschichte erzählen.
Meine Wahrheit sollte nicht länger in Behördenakten verzerrt werden.
Und irgendwann kam tatsächlich der erste kleine Sieg:
Das Verfahren nach § 126 StGB wurde eingestellt.
Kein Gerichtsprozess. Keine Verurteilung. Es war juristisch vorbei.
Natürlich blieb trotzdem ein bitterer Beigeschmack:
Die Akten waren nicht verschwunden. Die Lügen nicht ausradiert. Die Stigmatisierung nicht aufgehoben.
Aber: Es war der erste Riss im Beton.
Und ich merkte:
Man kann kämpfen.
Man kann das System zwingen, wenigstens kleine Fehler zuzugeben — wenn man nur lange genug standhält.
Diese Erfahrung gab mir neuen Mut.
Und plötzlich wusste ich:
Es geht längst nicht mehr nur um mich. Es geht um all die anderen, die ebenfalls in diesen Mühlen zerrieben werden — nur dass ihre Stimmen niemals gehört werden.

Kapitel 20 – Der große juristische und gesellschaftliche Kampf
Die Monate vergingen, und mit jedem neuen Brief, der ins Haus flatterte, wuchs in mir diese ganz eigene Mischung aus Wut und Klarheit.
Es war keine blinde Wut mehr. Keine chaotische Verzweiflung, wie ich sie früher oft erlebt hatte.
Es war eine andere Art von Zorn: kontrolliert, eiskalt, zielgerichtet.
Ich sah inzwischen klar, wie das System funktionierte.
Wie Akten entstehen. Wie Behörden voneinander abschreiben. Wie einmal gesetzte Stempel und Diagnosen sich wie Gift durch jede neue Akte fraßen. Und wie schwer es ist, diesen Kreislauf überhaupt zu durchbrechen.
Ich hatte keinen hochbezahlten Anwalt, keine Lobby hinter mir.
Ich hatte nur meine Erfahrung, meine Dokumente, meine Erinnerungen.
Und ich hatte gelernt, jeden dieser alten Schmerzen in Munition zu verwandeln.
Ich las mich tief in Gesetze ein.
Lernte Paragraphen auswendig, wühlte mich durch Verwaltungsrichtlinien, Beschwerdewege und Verordnungen.
Manchmal saß ich bis spät in der Nacht am Schreibtisch, Akten auf dem Boden verteilt, Laptop auf dem Schoß, Notizen überall.
Ein fast schon manischer Eifer packte mich.
Ich konnte kaum schlafen, kaum abschalten, so sehr zog mich dieser Kampf hinein.
Doch diesmal nicht aus Angst.
Diesmal aus Entschlossenheit.
Ich schrieb Schriftsätze, die eigentlich ein Jurastudium vorausgesetzt hätten.
Ich formulierte Anträge, Beschwerden, Gegendarstellungen.
Ich wühlte mich durch meine alten Klinikberichte, Polizeiprotokolle, psychiatrischen Stellungnahmen.
Manche Absätze las ich zehnmal, markierte Fehler, Ungenauigkeiten, Widersprüche.
Es war, als würde ich nach und nach das Lügengebäude entblößen, das andere über mein Leben errichtet hatten.
Und dann kam immer wieder diese eine Erkenntnis, die mir innerlich das Herz zusammenschnürte:
Wie viele andere da draußen wohl dasselbe erleben mussten — nur dass sie irgendwann resignierten.
Oder zusammenbrachen.
Oder nie wieder aus der Klinik zurückkamen.
Ich wollte nie zu diesen gehören.
Nicht diesmal.
Die Behörden hatten es sich einfach gemacht:
Einmal psychisch krank abgestempelt, immer verdächtig.
Einmal Schizophrenie in den Akten — alle weiteren Diagnosen orientierten sich daran.
Kaum einer prüfte noch, ob das je wirklich gestimmt hatte.
Es wurde nicht gefragt, wie lange die Symptome fortbestanden, ob sie abgeklungen waren, ob es Entwicklung gab.
Für die Akten war ich seit 2005 schizophren. Punkt.
Dabei waren meine Symptome schon seit 2013 verschwunden.
Und doch holten mich diese alten Zeilen immer wieder ein, tauchten überall auf: beim Führerschein, bei der Waffenbehörde, bei der MPU.
Ich erlebte, wie sich Behörden gegenseitig abschrieben.
Wie Fehler sich vermehrten, sich gegenseitig bestätigten — bis sie wie „bewiesene Tatsachen“ dastanden.
Niemand fragte mehr, wer ich wirklich war.
Doch ich hatte mich verändert.
Ich hatte gelernt, gegen diesen Mechanismus anzuschreiben, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.
Nicht emotional, sondern sauber, akribisch, mit Akten, Zitaten, Rechtsgrundlagen.
Manchmal spürte ich fast so etwas wie Genugtuung, wenn ich merkte, dass ein Sachbearbeiter ins Schwimmen kam, weil ich Widersprüche sauber herausarbeitete.
Ich hatte begriffen, dass in diesem Kampf nicht der Aggressive siegt, sondern der Geduldige.
Der, der präziser ist als die, die ihn einst abstempelten.
Und dennoch:
Es zehrte an mir.
Jeder neue Schriftsatz, jeder neue Bescheid war auch ein Angriff auf meine Würde, auf meine Kraft, auf meine Nerven.
Manchmal saß ich lange da und fragte mich, wie lange ich das noch würde durchhalten können.
Aber ich wusste auch:
Wenn ich jetzt nachlasse, wird es niemand mehr für mich richten.
Die Behörden, die einst mit einem Mausklick ganze Diagnosen übernommen hatten, würden niemals freiwillig ihre Fehler zugeben.
Dafür musste ich kämpfen — für mich, für mein Leben, aber auch für all jene, die schon lange keine Stimme mehr hatten.
Und während ich kämpfte, begann ich, meine Geschichte aufzuschreiben.
Jedes Kapitel wurde zu einem Baustein meiner Verteidigung.
Nicht nur juristisch, sondern auch menschlich.
Denn am Ende geht es nicht nur um Paragraphen.
Es geht darum, endlich wieder als Mensch gesehen zu werden.

Kapitel 21 – Die bittere Wahrheit: Das System will keine Heilung
Während ich weiter meine Akten wälzte, Anträge schrieb und Beschwerden einreichte, kam mir immer häufiger ein Gedanke, der mich erschütterte — weil ich ihn anfangs gar nicht denken wollte:
Vielleicht geht es in diesem ganzen System längst gar nicht mehr um Heilung.
Vielleicht will das System gar keine Heilung.
Nicht, weil Ärzte böse wären.
Nicht, weil Beamte morgens aufstehen und überlegen, wem sie heute das Leben ruinieren.
Sondern, weil das System selbst so geworden ist.
Ein Verwaltungsapparat.
Ein riesiges, unübersichtliches Netz aus Akten, Gutachten, Diagnosen und Paragraphen.
Und wer einmal darin gefangen ist, der kommt nur sehr schwer wieder heraus.
Ich hatte es selbst erlebt:
Als es mir 2010, 2013, 2015 besser ging, fragte niemand ernsthaft nach meiner Stabilität.
Es interessierte niemanden, dass die Stimmen verschwanden.
Dass ich wieder arbeiten konnte. Dass ich mein Leben aufbaute.
In den Akten stand „Schizophrenie“ — also war ich schizophren.
Für immer.
Für die Akte war ich längst kein Mensch mehr mit Entwicklung, sondern nur noch ein Eintrag.
Die Wahrheit ist bitterer, als ich es mir eingestehen wollte:
Heilung stört das System.
Ein geheilter Patient stellt das System in Frage.
Ein Patient, der aus dem Raster fällt, gefährdet die Einfachheit, mit der Akten verwaltet werden.
Er erzeugt Arbeit, Zweifel, Nachfragen, Verantwortung.
Und so wird lieber alles beim Alten belassen.
Diagnosen bleiben bestehen, obwohl längst neue Fakten vorliegen.
Gutachter schreiben voneinander ab.
Ärzte berufen sich auf alte Berichte, um sich abzusichern.
Beamte übernehmen einfach die Diagnosen, weil eigene Prüfung zu aufwendig wäre.
Selbst das Wort „Remission“ — also ein vollständiges Nachlassen der Symptome — existiert in vielen Gutachten gar nicht erst als denkbare Option.
Stattdessen taucht es immer wieder auf:
„Chronisch, dauerhaft, anhaltend, voraussichtlich lebenslang.“
Ein Satz wie ein Todesurteil für jede Hoffnung auf ein normales Leben.
Ich war funktional, beruflich erfolgreich, stabil verheiratet, gesetzestreu, gewaltfrei.
Aber das System las nur: „Schizophren, Dro., PTBS, psychisch auffällig.“
Und manchmal, ganz selten, dachte ich in dunklen Nächten:
Vielleicht wäre ich dem System lieber gewesen, wenn ich einfach kaputt geblieben wäre.
Wenn ich dauerhaft in einer Klinik geblieben wäre, medikamentiert, verwahrt, „sicher“ verwaltet.
Denn dann hätte man sich nicht mit der Frage beschäftigen müssen, ob man einem wie mir jemals Unrecht getan hat. Doch ich war nicht bereit, diesen Platz einzunehmen.
Nicht mehr.
Ich war bereit, für mich zu kämpfen — selbst wenn der Kampf mich am Ende meine letzte Kraft kosten würde.
Und tief in mir wusste ich:
Ich kämpfe nicht nur für mich.
Ich kämpfe für all die anderen, die nie die Kraft hatten, sich gegen das System zu stellen.
Für die, die in den Akten nur noch als Zahl existieren.
Für die, die längst gebrochen worden sind.

Kapitel 22 – Mein Appell an eine blinde Gesellschaft
Ich habe viel zu lange geschwiegen.
Vielleicht aus Angst.
Vielleicht aus Scham.
Vielleicht, weil ich es selbst nicht glauben wollte.
Aber heute weiß ich:
Mein Schweigen hat dieses System mitgetragen.
Deshalb sage ich es jetzt laut:
Wir haben in diesem Land kein medizinisches Problem.
Wir haben ein gesellschaftliches Problem.
Wir haben jahrzehntelang ein Bild aufgebaut, in dem psychisch Kranke nur auf zwei Weisen existieren dürfen:
Als hilflose Opfer — oder als tickende Zeitbomben.
Wir reden von Inklusion.
Von Teilhabe.Von Rechten.
Aber in Wahrheit leben psychisch Kranke in einem unsichtbaren Lager.
Nicht hinter Mauern, sondern hinter Akten.
Wer einmal gestempelt ist, trägt den Stempel für immer.
Egal, wie stabil er wird. Egal, wie funktional. Egal, wie sehr er sich bemüht.
Und wehe, man wehrt sich.
Dann heißt es sofort:
Der ist ja uneinsichtig. Der will seine Krankheit nicht wahrhaben.
Der gefährdet sich und andere.
Was für ein perfides Spiel.
Man nennt das „Selbstwahrnehmungsstörung“ — dabei ist es in Wahrheit nur Angst, Verantwortung übernehmen zu müssen, falls der Patient tatsächlich gesünder ist, als die Akte behauptet.
Ich habe es am eigenen Leib erlebt.
Fixierungen.
Demütigungen.
Stigmatisierung.
Missbrauch.
Verlust meiner Würde.
Verlust meiner Rechte.
Und ich frage euch alle:
Wie viele noch?
Wie viele Menschen müssen wir noch in Kliniken binden, erniedrigen, zerstören?
Wie viele müssen wir noch tot schweigen, bis wir begreifen, dass unser Umgang mit psychischer Krankheit selbst längst krank ist?
Wir haben ein perfides System aufgebaut, das Verantwortung scheut wie der Teufel das Weihwasser.
Die Polizei stempelt Menschen vorsorglich als gefährlich ab, damit sie im Zweifel immer rechtzeitig gehandelt hat.
Die Psychiatrie fixiert, bevor sie versteht.
Die Justiz schützt lieber das System als den Einzelnen.
Die Politik redet von Suizidprävention, während sie den sozialen Druck immer weiter erhöht.
Und die Öffentlichkeit? Sie schaut lieber auf Killerspiele oder Canna. als auf die wahren Ursachen.
Niemand spricht aus, was längst offensichtlich ist:
Wir treiben Menschen in den Suizid, die vielleicht hätten leben können — wenn man ihnen nur einmal wirklich zugehört hätte.
Jedes Jahr sterben Tausende Menschen an Suizid.
Mehr als im Straßenverkehr, mehr als durch Gewaltverbrechen.
Aber sie tauchen in keiner großen Talkshow auf.
Sie sind nur stille Zahlen in der Statistik.
Wir haben kein Problem mit psychisch Kranken.
Wir haben ein Problem mit Gleichgültigkeit.
Wir haben ein Problem mit Kälte.
Mit Ignoranz. Mit dem ewigen Reflex, Schuld beim Einzelnen zu suchen, statt bei der Gesellschaft.
Denn es ist bequemer, einen Einzelnen zum Problem zu machen, als über unser Versagen nachzudenken.
Und dann — ja, dann reden plötzlich alle über Gewalt, wenn wieder einer zerbricht.
Aber kaum jemand fragt:
Was habt ihr ihm angetan, bevor er zerbrach?


Und genau deshalb erzähle ich meine Geschichte.
Nicht, um Schuldige zu suchen. Nicht, um Rache.Nicht, um Mitleid.
Sondern damit niemand mehr sagen kann:
„Wir haben es nicht gewusst.“

Kapitel 23 – Mein Traum von einer besseren Welt
Ich träume.
Auch nach allem, was ich erlebt habe. Vielleicht gerade deshalb.
Ich träume von einer Welt, in der der Mensch wieder zählt. Nicht seine Diagnose, nicht seine Akte, nicht seine Fehlbarkeit. Sondern der Mensch. So, wie er da steht — verletzlich, suchend, hoffend.
Ich träume von einer Gesellschaft, die endlich begreift, dass psychische Krankheiten keine Charakterfehler sind. Keine Schuld. Kein Versagen. Sondern Schicksale. Geschichten. Kämpfe, die jeder führen kann, egal wo er geboren wurde.
Ich träume von Ärzten, die wieder zuhören, bevor sie diagnostizieren. Von Psychiatern, die nicht zuerst das Rezeptblock zücken, sondern erst einmal den Stuhl daneben stellen, sich setzen, einfach fragen:
Was brauchen Sie gerade?
Ich träume von einem System, das Trauma versteht. Das weiß, dass nicht jedes auffällige Verhalten gleich Wahn bedeutet. Sondern manchmal nur Angst. Oder Schmerz. Oder die verzweifelte Suche nach Halt.
Ich träume von einem Krisensystem, das deeskaliert, bevor es eskaliert. Von Menschen, die zur Wohnung kommen, um zu helfen — nicht, um zu fixieren. Von Gesprächen statt Kommandos. Von offenen Händen statt Handschellen.
Ich träume von einem Verbot der Fixierung als Regelinstrument. Fixierung darf niemals der einfache Weg sein, den Personalnotstand zu kompensieren. Sie muss zur absoluten Ausnahme werden — nur noch dann, wenn wirklich nichts anderes mehr möglich ist. Und selbst dann: unter strengsten Regeln, mit dem Ziel, keine neuen Narben zu hinterlassen.
Ich träume von einer Psychiatrie, die nicht länger denkt:
Wer hier reinkommt, ist krank und bleibt krank.
Sondern:
Wer hier reinkommt, ist in Not — und bekommt die Hilfe, die er braucht, um irgendwann wieder zu gehen.
Ich träume von Technik, die dem Menschen dient. Von Virtual-Reality-Brillen, die in Krisen beruhigende Welten öffnen können. Von AR-Therapien, die helfen, innere Bilder neu zu schreiben, ohne Scham, ohne Gewalt, ohne neue Traumata.
Ich träume von Polizisten, die psychologische Schulung erhalten. Die nicht mit der Hand an der Waffe auftreten, sondern mit dem Wissen, dass sie einem verzweifelten Menschen gegenüberstehen — keinem Verbrecher.
Ich träume von einem Rechtssystem, das begreift, dass ein alter Stempel kein Beweis für künftige Gefährlichkeit ist. Dass Menschen sich entwickeln. Dass Heilung möglich ist. Dass Akten auch Fehler enthalten können.
Ich träume von einer Gesellschaft, die keine Angst mehr hat vor dem Wort Schizophrenie, vor dem Wort PTBS, vor dem Wort psychisch krank.
Weil sie endlich begreift:
Hinter jedem dieser Worte steht ein Mensch.
Ich träume von einer Welt, in der kein Mensch mehr den Albtraum durchlebt, den ich durchlebt habe.
Eine Welt, in der Würde nicht verhandelbar ist.
In der Mitgefühl nicht verwechselt wird mit Schwäche.
In der niemand mehr daran zerbricht, einfach nur anders zu sein.
Und ich weiß: Ich werde diese Welt vielleicht nicht mehr selbst erleben.
Aber vielleicht, eines Tages, wird ein anderer diesen Text lesen.
Ein Politiker.
Ein Richter.
Ein Polizist.
Ein Arzt.
Ein Mensch in Not.
Oder einfach jemand, der gerade beginnt zu begreifen.
Und wenn auch nur einer von ihnen dann innehält — nur für einen Moment — und fragt:
Wie hätte ich ihn behandelt?
Dann war all das hier nicht umsonst.

So fertig, wenn ich jetzt noch was ändere, bzw etwas hinzufüge, brauch ich nur noch das geänderte Kapitel einfügen.

A


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