Echt süß das Faultier
In einer großen retrospektiven Analyse von ca. 800 Fällen von Citalopram- bzw. Escitalopram-Überdosierungen (Citalopram n = 374, Escitalopram n = 421) fanden Hayes et al. (2010) keinen signifikanten Unterschied in der Zahl der Fälle mit einer QTc-Zeit-Verlängerung. In Anbetracht der medianen ingestierten Dosierungen (Citalopram: 310 mg, Escitalopram: 130 mg) war die absolute Zahl von QTc-Intervall-Verlängerungen gering (Citalopram n = 14, Escitalopram n = 7). Allerdings war die Gesamt-Toxizität von Citalopram höher, insbesondere traten Krampfanfälle signifikant häufiger auf (Citalopram n = 30, Escitalopram n = 1).
Die Warnung der FDA wurde als überzogen kritisiert (Howland, 2011). Die statistisch zwar signifikante Verlängerung des QT-Intervalls sei absolut gesehen gering und die klinische Signifikanz fraglich.
Die DGPPN rät zu einem rationalen Umgang mit den beiden Rote-Hand-Briefen zum Citalopram bzw. Escitalopram. Ein Verzicht auf die Substanzen wäre eine überzogene Reaktion. Citalopram und Escitalopram sind sichere und gut verträgliche Arzneimittel. Dies gilt auch bei einer Intoxikation. Andere SSRI wie Fluoxetin, Paroxetin und Sertralin bergen vergleichbare Risiken. Ein besonnener und vorsichtiger Umgang mit Citalopram und Escitalopram bei bestimmten Patientengruppen (eingeschränkte Nierenfunktion, höheres Lebensalter, Kombination mit CYP-Inhibitoren) war auch vor Erscheinen der Rote-Hand-Briefe bereits ratsam. Die Tatsache, dass Rote-Hand-Briefe für andere Substanzen nicht vorliegen, macht diese nicht sicherer (z.B. relativ hohes Interaktionspotenzial von Fluoxetin oder Paroxetin) und entbindet verschreibende Ärztinnen und Ärzte nicht von besonderer Sorgfalt im Umgang mit diesen Substanzen, insbesondere bei den o.g. Patientengruppen.
Die Begrenzung der zugelassenen Höchstdosis auf 40 mg Citalopram täglich stellt klinisch keinen bedeutsamen Einschnitt dar. Studien zeigen, dass SSRI bei depressiven Syndromen eine flache Dosis-Wirkungs-Kurve aufweisen. Das heißt, dass die meisten Patienten nicht von einer Dosiserhöhung profitieren. Anders ist dies bei Störungen wie der Zwangsstörung oder der Bulimie. In diesen Indikationen ist Citalopram nicht zugelassen, wohl jedoch das Escitalopram. Behandelt man diese Störungen mit einer zugelassenen Substanz (Zwangsstörung: Clomipramin, Escitalopram, Fluoxetin, Paroxetin, Sertralin; Bulimie: Fluoxetin) in einer hohen Dosis (wie dies bei diesen Indikationen sinnvoll sein kann), so ist in jedem Fall darauf zu achten, dass alle genannten Substanzen gerade bei hohen Dosierungen zu einer Verlängerung des QT/QTc-Intervalls führen können.
Klinisch bedeutsam ist jedoch, dass mit den beiden Rote-Hand-Briefen die gleichzeitige Anwendung von Citalopram bzw. Escitalopram mit anderen Arzneimitteln, die bekannterweise das QT-Intervall verlängern, für kontraindiziert erklärt wird. Explizit genannt werden hier Phenothiazine, Pimozid und Haloperidol. Da solche Kombinationen in der klinischen Praxis weit verbreitet sind, stellt die Beschränkung ihrer Anwendung eine erhebliche Einengung der klinischen Behandlungsoptionen dar. In Anbetracht der nur sehr mäßigen Verlängerung des QT/QTc-Intervalls insbesondere unter Escitalopram erscheint die Beschränkung von Kombinationsbehandlungen in diesem umfangreichen Ausmaß überzogen.
Spekulationen, wonach der Rote-Hand-Brief zum Risiko der QT-Intervall-Verlängerung unter Citalopram von der Lundbeck GmbH veröffentlich wurde, um das nach wie vor patentgeschützte Escitalopram nach der Eingruppierung der Substanz in eine Festbetragsgruppe durch den G-BA besser im Markt zu etablieren, hielt die DGPPN bereits vor Erscheinen des Rote-Hand-Briefes zum Escitalopram für ungerechtfertigt. Auch wenn die Verlängerung des QT/QTc-Intervalls unter Escitalopram geringer ausgeprägt zu sein scheint als unter Citalopram, enthielt doch die Fachinformation zum Escitalopram schon zuvor eine Warnung vor einer mögliche Verlängerung des QTc-Intervalls und Torsade de Pointes vor allem bei Überdosierung, bei Kombination mit anderen die QTc-Zeit verlängernden Arzneimitteln und bei Hypokaliämie.
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN)