Es gibt in diesem Beitrag möglicherweise ein paar (leichte) Trigger, finde ich schwierig zu beurteilen. Ich werde keine Trigger-Warnungen setzen, da ich nicht weiß, bei welchen Aspekten das angeraten wäre. Daher diese allgemeine Warnung.
Ich kämpfe gerade meine gewaltige Angst nieder, denn was ich jetzt posten will, ist ein heftiger Schritt und ein großes Wagnis. Ein Teil von mir ist sich sicher, dass dieser Beitrag meine Teilnahme am Forum beenden wird. Die Leute werden mich auslachen und verspotten, werden angewidert die Nase rümpfen und nicht mehr mit mir reden. Glücklicherweise weiß der größte Teil von mir mittlerweile, dass das Unsinn ist. Ich schreibe das alles, weil ich endlich bereit bin, diese Ereignisse zu verarbeiten.
In einem anderen Thread schrieb ich über die Entwicklung meiner Probleme:
Zitat von Spaceman:es waren nur sehr wenige schwerwiegendere Ereignisse, sondern gefühlte Tausend kleine Stiche seit meiner Kindheit.
Das stimmt so weit, aber es gibt drei Ereignisse, die ich neben einer möglichen angeborenen Störungen immer wieder als Schlüsselprobleme wahrnehme.
1. Enkopresis
Als Kind hatte ich eine viele Jahre anhaltende schwere Enkopresis (Einkoten, In die Hose machen). Das ist echt schlimm. Dauernde Angst vor der Toilette; die sehr schlimmen Schmerzen, wenn es nicht mehr zu vermeiden war; ständige Angst davor, dass irgendwer das herausfindet; Scham, Selbst-Ekel, Hass und Verachtung für den eigenen Körper, der einem das antut. Zahllose Situationen, in denen ich sowohl körperlich als auch seelisch total verkrampft in irgendeiner Ecke stand, während die anderen Kinder ausgelassen spielten. In einer solchen Situation hatte ich zum ersten Mal den Gedanken, dass es besser wäre, tot zu sein.
Meine Eltern reagierten nicht wirklich schlecht darauf. Es kam nicht - wie bei anderen Fällen - zu Beschimpfungen oder sogar Schlägen. Aber sie konnten auch nicht vermeiden, dass die Verunsicherung und der Ekel zu mir durchdrungen.
2. Indirekte Konfrontation mit sexueller und männlicher Gewalt
Meine Mutter arbeite viele Jahre lang halb-ehrenamtlich beim Kinderschutzbund. Schon als ich etwa 10, 11 war, hing im Flur ein großes Poster, schwarz, mit einem sehr traurig dreinblickenden Kind und dem Schriftzug Keine Gewalt darunter. Des Öfteren lief der Bettina Wegner-Song Sind so kleine Hände, welches Gewalt gegen Kinder thematisiert. Mit Ausnahme von 2, 3 Ohrfeigen, ist mir selbst nie etwas passiert. Mit 16 zogen wir in eine Doppelhaushälfte mit 6 Zimmern. In dem zusätzlichen Zimmer nahmen wir Inobhutnahmen (Kurzzeitpflegekinder) auf.
Meine Eltern merkten nicht, wie sehr die Geschichten, die wir zu hören bekamen, vor allem mich als ältesten aber auch meine Geschwister, verstörten. Sie haben auch nie mit mir (uns?) darüber geredet, mit was zum Teufel wir da plötzlich konfrontiert werden. Insbesondere im Bereich sexueller Missbrauch aber auch was allgemein vornehmlich männliche Gewalt betrifft. Unsere Eltern hatten uns beigebracht, dass Sex Liebe, Zärtlichkeit, Romantik ist. Für mich, der gerade seine eigene Sexualität entdeckte, sollte es sich als schweren Schock herausstellen, was Sex auch sein kann.
Mit 17 verliebte ich mich in ein 16-jähriges Mädchen, welches wegen eines eher leichten Falles von sexuellem Missbrauch 1, 2 Monate bei uns wohnte. Wir waren für drei Monate zusammen und küssten, streichelten und kuschelten aber schliefen nicht miteinander. Ich weiß nicht, ob sie es gewollt hätte, aber ich konnte es einfach nicht. Gewünscht hatte ich es mit sehr, aber jedes mal, wenn ich davon träumte - liebevoll, zärtlich, romantisch -, empfand ich nur Verachtung und Scham gegen mich selbst. Immer wieder war da der Gedanke Typisch Mann, du willst sie auch nur flachlegen. Es sollte 10 Jahre dauern, bis meine zweite und bis dato letzte Freundin diese sexuellen Hemmungen heilte.
3. Der Rauswurf
Meine Pubertät war schwer. Immer weiter eskalierten meine sozialen Ängste, die Scham und die Verunsicherung. Mit 16 kam Schulangst hinzu, weshalb ich immer öfter schwänzte und irgendwann gar nicht mehr hinging. Andererseits hatte ich gerade in dieser Zeit den besten Freundeskreis meines Lebens. Dennoch war ich innerlich dermaßen kaputt, dass es zu Schulabbruch und später zu Ausbildungsabbruch (Kinderpfleger/Erzieher) kam. Ich bekam überhaupt nichts mehr zu Stande. Einmal schickten Eltern und Lehrer mich zu einem Psychiater. Schnell EEG gemacht, 15 Minuten Unterhaltung, Diagnose: Leichte depressive Verstimmung, gibt sich wieder. Keine Medis, keine Therapie, nichts. Rückblickend: krasse Fehldiagnose. (Edit: Ok, ich hatte ihm auch kaum etwas erzählt, konnte ich nicht, zu viel Scham.)
Mit 21 hatten meine Eltern genug und setzten mich vor die Tür. Ab in eine Notunterkunft des Sozialamtes. Völlig verwirrt, verängstig, depressiv, beschämt, überhaupt nicht mehr wissend, was mit mir passiert und von der Gnadenlosigkeit des Sozialsystems schockiert, verlor ich das Vertrauen in meine Eltern. Wenige Jahre später lebte ich erneut einige Wochen bei ihnen, weil ich aus meiner Wohnung geflogen war und nicht wusste, wo ich sonst hin sollte. Es wurde von meinen Eltern sehr deutlich kommuniziert, dass ich nur noch ein Gast war.
Mittlerweile bin ich 45, die direkten Ereignisse sind längst abgehackt. Mein heutiges Leben ist anders, stabiler, sicherer, weniger verunsichert. Aber die tiefgreifenden Schäden, die diese Erfahrungen verursacht haben, sind bis heute jeden Tag spürbar. Bald werde ich Therapien machen. Auch um mich darauf vorzubereiten, darüber zu reden, ist dieser Beitrag gedacht.
Danke an alle fürs Lesen
05.10.2021 22:47 • • 08.10.2021 x 18 #1