Hier mal ein interessanter Artikel:
Somatoforme Störungen:
Eine einseitige medizinische Behandlung somatoformer Störungen bleibt in der Regel erfolglos. Therapiert werden müssen auch die psychischen Faktoren, die die Störung verursachen und aufrechterhalten.
Patienten mit somatoformen Störungen stellen in vielen Arztpraxen und Allgemeinkrankenhäusern die größte Patientengruppe dar. Ihre Beschwerden sind vielfältig und reichen von Rückenschmerzen über Herzbeschwerden bis hin zu Krampfanfällen. Sie treten einzeln oder gleichzeitig auf und beeinträchtigen das Wohlbefinden der Patienten viele Jahre, doch es fehlt ein organischer Befund. Nach heutigen Erkenntnissen lassen sich Behandlungserfolge nur interdisziplinär erzielen, in der Praxis ist man davon jedoch noch weit entfernt. Nach wie vor sind Allgemeinmediziner und Fachärzte die erste Anlaufstelle für die Betroffenen. Psychotherapeuten werden meistens erst nach langem Störungsverlauf und fehlgeschlagenen Behandlungen hinzugezogen. Ein Umdenken wäre angebracht, denn an somatoformen Störungen haben psychische Aspekte einen erheblichen Anteil.
So haben Patienten mit somatoformen Störungen häufig unrealistische Annahmen über physiologische Zusammenhänge und Körperfunktionen. Sie sind davon überzeugt, dass sie nur gesund sind, wenn sie völlig beschwerdefrei sind. Harmlose Dysfunktionen, Bagatellkrankheiten, somatische Begleiterscheinungen intensiver Emotionen, sogar normale physiologische Vorgänge, werden falsch interpretiert und als Anzeichen ernsthafter Krankheiten gewertet. Schon kleinste Irregularitäten lösen Angst- und Panikzustände aus. Die Patienten beobachten ihre Körperfunktionen intensiv und ängstlich und haben das Bedürfnis, sich bei Ärzten und Angehörigen über die Harmlosigkeit der Beschwerden rückzuversichern. Sie glauben, schwach, anfällig und empfindlich zu sein und besonderer Schonung zu bedürfen. Darüber hinaus sind diese Patienten von einer körperlichen Ursache ihrer Beschwerden fest überzeugt und verlangen oftmals diagnostisch wie therapeutisch invasive Interventionen. Auf Druck der Patienten verschreiben Ärzte dann häufig Mittel mit unklarem Bezug zu den Symptomen, wie Tranquilizer, Neuroleptika und Schmerzmittel, die bei Langzeitgebrauch zu Folgeschäden und Abhängigkeit führen können. Bringen diese nicht die erhoffte Linderung, so zweifeln die Patienten an der Kompetenz des Arztes und suchen einen anderen auf. Neben Gedanken und
Einstellungen sind auch Gefühle und Verhalten verändert. Die Betroffenen empfinden in ihrer Situation einerseits Angst, Sorgen und Niedergeschlagenheit, andererseits aber auch Gereiztheit, Ärger und Wut. Sie reagieren mit häufigen Arztbesuchen, unkontrollierter Selbstmedikation und vermeiden Anstrengungen, soziale Kontakte und Freizeitaktivitäten.
Tendenz zur Somatisierung
Auch die Ursachen somatoformer Störungen sind überwiegend auf psychische Faktoren zurückzuführen. Vernachlässigung, Verluste wichtiger Bezugspersonen, sexueller Missbrauch und schwierige Lebensbedingungen in der Kindheit sind dabei ebenso aufzuführen wie traumatisierende Erlebnisse im Erwachsenenalter. Daneben spielen soziale Aspekte eine Rolle. Die Tendenz zur Somatisierung kann ein Produkt soziokultureller Prägung oder elterlichen Modelllernens sein, sie kann aber auch Vorteile verschaffen, wie etwa Vermeidung unangenehmer Verpflichtungen, vermehrte Zuwendung seitens Arzt und Familie und die Herausnahme aus der Arbeitsbelastung. Auch der Lebensstandard ist bedeutend. „Arbeitslose, Berufsunfähige und Arme sind überdurchschnittlich häufig von somatoformen Störungen betroffen“, berichten finnische Wissenschaftler. Weitere Risikofaktoren sind ein niedriges Bildungsniveau und eine niedrige soziale Schicht, eine genetische Disposition, prädisponierende Persönlichkeitszüge sowie gestörte Prozesse der Aufmerksamkeit und der interozeptiven Wahrnehmung.
Somatoforme Störungen sind für die Behandler eine besondere Herausforderung. Die erste Hürde, die es zu überwinden gilt, ist die korrekte Diagnose, da somatoforme Störungen sehr facettenreich und vielgestaltig sind. Erschwert wird die Diagnose durch die Tatsache, dass somatoforme Störungen, Depressionen, Ängste und psychosomatische Beschwerden viele überlappende Merkmale haben. Somatoforme Störungen treten in Begleitung psychischer Störungen wie der posttraumatischen Belastungsstörung auf.
Eine zweite Hürde besteht in dem organischen Krankheitsmodell der Patienten. Obwohl solche Modelle meistens auf falschen Annahmen beruhen, verteidigen die Patienten sie vehement. Dahinter verbirgt sich die Angst vor Unterstellungen, die besagen, dass „alles nur Einbildung“ wäre oder sie „nicht ganz richtig im Kopf seien“. Die Patienten sind entsprechend misstrauisch und für komplexe Erklärungsmodelle, die neben körperlichen auch psychosoziale Aspekte berücksichtigen, kaum zugänglich. Die dritte Hürde ergibt sich aus dem Bewältigungsverhalten der Patienten. Nach jahrelangen erfolglosen Behandlungsversuchen haben sich die Patienten Verhaltensweisen zugelegt, die sich beim Umgang mit den Symptomen bewährt haben, zum Beispiel Schonung, Vermeidungsverhalten und häufige Arztwechsel. Diese Verhaltensweisen stehen zwar einer Gesundung im Wege, doch über die Jahre haben sie sich eingeschliffen. Die Patienten halten sich mangels alternativer Verhaltensweisen starr daran fest.
Eine erhebliche Hürde stellt außerdem eine konträre Motivation der Patienten dar. Der sekundäre Krankheitsgewinn und der Wunsch nach vorzeitiger Berentung werden gegenüber dem Behandler oft verschwiegen, beide untergraben jedoch die Bereitschaft zu ernsthafter Mitwirkung und Genesung.
Psychopathologisierung vermeiden
Die psychotherapeutische Behandlung somatoformer Störungen setzt daher an zwei Punkten an: erstens an der Vermeidung der genannten Hürden, und zweitens an der Therapie der kognitiven, emotionalen, behavioralen und physiologischen Dysfunktionen. Beispielsweise ist bei der Diagnosestellung darauf zu achten, körperliche Ursachen vollständig auszuschließen, somatoforme von anderen Störungen zu differenzieren und Hintergrundinformationen möglichst vollständig zu erfassen. Bei der Vermittlung eines komplexen Krankheitsmodells hat sich bewährt, in kleinen Schritten vorzugehen. Der Behandler sollte sich zunächst auf die Sichtweise des Patienten einstellen und dessen Gründe als vernünftig anerkennen. In der Anfangsphase ist es außerdem wichtig, Wut und Enttäuschungen des Patienten zuzulassen, eine Psychopathologisierung zu vermeiden und eine tragfähige therapeutische Beziehung aufzubauen. „Auf dieser Grundlage ist der Patient dann eventuell dazu zu bewegen, eine wissenschaftliche Sichtweise einzunehmen, sich für alternative Krankheitsmodelle zu öffnen und selbstständig nach verschiedenen Einflussbedingungen zu suchen“, betonen Prof. Dr. Winfried Rief, Universität Marburg, und Prof.
Dr. Wolfgang Hiller, Universität Mainz.
Zur Korrektur dysfunktionaler Einstellungen, Denkweisen und Verhaltensmuster eignen sich bewährte Verfahren der kognitiv-behavioralen Psychotherapie, wie etwa Informationsvermittlung, Selbstbeobachtung, Aufmerksamkeitsfokussierung, kognitive Restrukturierung und Verhaltensexperimente. Sinnvoll ergänzt werden können sie durch Biofeedback, Entspannungsverfahren und körpertherapeutische Übungen. Alle Verfahren helfen den Patienten, einen realistischen Gesundheitsbegriff zu erarbeiten, übertriebene Ängste zu reduzieren und Schonverhalten abzubauen.
Auch psychoanalytische und psychodynamische Verfahren können einen Beitrag leisten. Sie stellen aktuelle interpersonelle Konflikte, infantile Erlebnisstufen und die Krankheitsverarbeitung in den Vordergrund. Intensive Gefühle der Ohnmacht, Verlassen- und Verlorenheitsgefühle werden mit dem Patienten durchgearbeitet, wobei die Beziehungs- und Bindungsfähigkeit erhalten bleiben. Dieses Vorgehen muss auf den Patienten individuell abgestimmt werden und erfordert einen flexiblen Wechsel von bindungsstärkender und konfliktklärender therapeutischer Technik. Begleitend können außerdem Psychopharmaka eingesetzt werden. Am ehesten ist ein positiver Effekt durch Einsatz von klassischen Antidepressiva und Serotonin-Wiederaufnahmehemmern zu erwarten.
Da somatoforme Störungen sehr stabil und weder einfach zu diagnostizieren noch zu behandeln sind, setzen viele Experten die Therapieziele sehr niedrig an. Schon eine leichte Verminderung von Symptomen, Schmerzen und Arztbesuchen wird als Erfolg gewertet. Eine völlige Beseitigung der Beschwerden gilt selbst bei fachgerechter Behandlung hingegen als fast unerreichbar. Ein Behandlungsziel sollte es daher sein, die Tolerierbarkeit von Beschwerden zu erhöhen, um das Leben mit Schmerzen erträglicher zu machen.
Dr. phil. Marion Sonnenmoser
Quelle:
http://www.aerzteblatt.de/archiv/45875/ ... sziplinaer