Heilstrom
ich arbeite seit 16 Jahren in diversen Betrieben im Rechnungswesen. Meine jetzige Stelle habe ich seit Anfang 2006. Eigentlich war es von Anfang an eine traumhafte Stelle. Aber ich muss erst noch weiter ausholen.
In 1997 bin auch aus der Provinz in die Großstadt gegangen, weil es hier in dem strukturschwachen Gebiet nicht sonderlich viele Arbeitsplätze gibt. Da habe ich zwei Jahre in einer Firma als Buchhalter gearbeitet. War wie eine andere Welt. Durchschnittsalter um die 30, teilweise ziemlich gut aussehende Frauen, einige Akademiker und in einem internationalen Umfeld. Irgendwann wurde der Laden verkauft und ich hatte keine Lust mehr, mich da aufreiben zu lassen, weil ich nicht gefragt wurde, ob ich befördert werden wollte. Ständig kamen Leute von extern, die von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten, und da ich mich nicht durchsetzen kann, hatte ich auch keinen Fürsprecher.
Dann, in 1999 kam ich in einen edlen kleinen japanischen Betrieb, indem alles nagelneu war. Wie im Paradies. Lauter Akademiker, alles sehr nobel und Geld schien keine Rolle zu spielen. Mein großer Fehler hat mich aber bis zum Ende verfolgt: Ich hätte problemlos 1000 - 2000 Mark pro Monat mehr verlangen können. Die Stelle hätte das hergegeben. Und da es aussichtslos war, mehr als 3% Lohnerhöhung pro Jahr zu bekommen, fühlte ich mich verkaspert und nicht für voll genommen. Ich kann nicht in einer Firma arbeiten, wo ungelernte Sekretärinnen mehr verdienen als ich. Und so habe ich gekündigt, weil mir schon eine Zeitarbeitsfirma mehr bot. Leider war das aber der größte Griff ins Klo. Es ging keine drei Monate gut und ich bekam eine Änderungskündigung. Kurz danach hatte ich komplett gekündigt.
Danach war ich vier Jahre in einem größeren Konzern in Leitender Stellung. Der Verdienst war so gut wie er in der japanischen Firma hätte sein können. Dummerweise fühlte ich mich da völlig deplaziert, weil ich nach einem Jahr gemerkt habe, dass mich keiner für voll nimmt. Ich war Leiter Controlling. Leider etwas weit weg von der Landeszentrale. Weil ich keine großartigen rhetorischen Fähigkeiten habe, hatte ich auch dort keinen Fürsprecher und habe nach einer betriebsbedingten Organisationsänderung einen Aufhebungsvertrag bekommen. Entscheidend für meinen Frust dort war meine Langeweile durch fehlende Auslastung. Es gab Tage, da war ich von morgens bis abends nur im Internet. Mindestens aber drei Stunden pro Tag. Ich kam in eine Situation, wo ich depressiv wurde durch Unterforderung. Das wurde mir erst Jahre später klar.
Jetzt kam ich zu der Stelle, wo ich heute noch bin. Da hat es drei Jahre gedauert, bis ich mich langweilte und mich im Internet rumtrieb. Natürlich habe ich nie meine Arbeit schleifenlassen und nie einen Termin verpasst. Was mich jetzt so frustriert, ist die Tatsache, dass mein Chef mich jedes Halbjahr mehr abwertet, weil er vorhat, mich loszuwerden. Das hört sich jetzt etwas billig an, es ist aber so, dass mein Arbeitsplatz wegen grundlegender Umstellungen ca. 60% seiner ursprünglichen Aufgaben an andere Arbeitsplätze, auch im Ausland, abgegeben hat. Ich langweile mich jetzt also fast so, wie zwischen 2003 und 2005. Zeitweise komme ich mir auch ausgebrannt vor. Ich bin nicht überfordert, sondern unterfordert und genau das führt dazu, dass ich für das bisschen, was ich machen soll, gar keine Lust mehr habe. Ich hasse mich zeitweise dafür. Andererseits suche ich seit Januar eine andere Stelle, mehr oder weniger intensiv. Meine Chancen stehen an sich gar nicht so schlecht.
Was auch noch eine Rolle spielt: Mein Chef hat von Anfang an gelogen. Die leitende Stelle stellt sich als Sachbearbeiterstelle heraus, ich habe immer weniger Mitspracherecht, was meine Mitarbeiterin betrifft und irgendwann wurden Levels eingeführt und ich stelle zufällig fest, dass meine angebliche Mitarbeiterin auf dem selben angesiedelt ist wie ich. Das Personalbüro in den USA meint, das dürfte eigentlich nicht sein, aber unternehmen tun sie auch nichts dagegen. Also Bossing vom feinsten.
Jetzt nehme ich seit März 2010 Citalopram gegen meine Unterforderungs-und-mangelnde-Anerkennungs-Depri und das hat dafür gesorgt, dass mir alles egal geworden ist. Manchmal denke ich, mir ist gar nicht klar, in welcher Situation ich bin. Ich habe ein Haus, eine Frau und zwei bis drei Kinder (zwei eigene und ein Stiefkind). Ich kann doch nicht so riskant leben und alles schleifen lassen. Auf der anderen Seite weiß ich was ich kann und suche eine Stelle, wo ich wirklich voll reinhauen kann und wirklich Chef bin. De facto verdiene ich heute noch fast genau das, was ich in 1999 schon hätte verdienen können. Manchmal weiß man eben nicht, dass man Glück hat und riskiert es leichtfertig. Meine Kündigung von vor zehn Jahren hat mir fast meine Karriere runiert, denn da könnte ich heute noch glücklich sein. (Obwohl: da war ich auch gelangweilt und
unterfordert, außerdem hätte ich kaum was gelernt dort)
Was meint ihr? Soll ich den Sprung nochmal wagen? Was ich mit meinem Thema sagen will, ist, dass ich einem Burnout bis jetzt dreimal zuvorgekommen bin, weil ich einfach die Zügel hängenlasse. Eine Überforderung habe ich noch nie erlebt. Aber ich weiß, dass ich das auch nicht unbeschadet überstehen würde. Aber ich kann mich eben super organisieren und Unmengen an Aufgaben abarbeiten. Nur komme ich mir so vor, als würde ich jedes Mal in ein Dilemma geraten. Ich werde irgendwann so produktiv, dass ich Starallüren anfange, die in Aufschieberei enden. Also nach dem Motto: Entweder Vollgas oder Standgas. Im Moment überwiegt das Standgas. Aber ich weiß, dass ein Wechsel mit 42 Jahren wahrscheinlich der letzte wäre.
Heilstrom
24.07.2011 20:21 • • 26.07.2011 #1