Scham ist - ebenso wie Schuld - eine Bewertung. Und während wir schuldhaftes Verhalten gerne auch öfter mal bei anderen suchen und finden, fällen wir in Sachen Scham ein moralisches Urteil über uns selbst.
Die meisten von uns haben wohl in ihrer Kindheit die Aufforderung Schäm' dich! nicht nur einmal gehört. Meist dann, wenn wir gegen irgendein moralisches Regelwerk verstoßen haben. Dieses war manchmal offensichtlich an religiösen Geboten orientiert - Du sollst nicht lügen/ betrügen/ stehlen/ böse zu Vater und Mutter sein... - oft aber auch einfach nur konstruiert, weil es der betreffenden Person nützte.
Wenn meine Oma - samt passender Mimik und Tonfall - sagte: Es ist so schön, wenn du mich besuchst, aber es ist halt so selten! rastete der Schuld-Scham-Mechanismus in meinem Hirn zuverlässig ein. Es reichte oft schon der Tonfall bei einem Telefonat (Ach, wie schön, dass du mal anrufst!).
In Verbindung mit Menschen, die für uns wichtig waren/ sind und/ oder Macht über uns hatten/ haben, kriegt die moralische Bewertung eine solche Bedeutung, dass dieser Mechanismus auch im Erwachsenenalter ganz hervorragend greift.
Scham entsteht, wenn wir uns moralischen Bewertungen - vor allem durch uns selbst - unterwerfen.
Ich selber kenne das Gefühl der Einsamkeit tatsächlich auch aus der Zeit als berufstätige, alleinerziehende Mutter, in der ich mich oft zwischen den Ansprüchen von Kindern und Job so abmühen musste, dass wenig Zeit für die Pflege sozialer Kontakte blieb. Ich musste mich irgendwann gewaltig in den Hintern treten, um dennoch genügend Eigeninitiative zu entwickeln, um diesen Zustand aktiv zu verändern.
Denn das habe ich gelernt: Beziehungen, Freundschaften muss man pflegen. Vor allem dann, wenn man sich nicht ohnehin ständig trifft und Zeit miteinander verbringt. Es ist vielleicht hilfreich für das eigene Seelenwohl, wenn man von anderen erwartet, einfach für einen da zu sein, wenn man jemanden braucht - aber das ist zugleich eine recht bequeme Sichtweise. Wenn ich will, dass jemand sich für mich interessiert, muss ich das auch umgekehrt tun und zeigen.
Dass sich manche Beziehungen in ein Ungleichgewicht hinein entwickeln, in dem sich einer mehr bemüht als der andere, kommt vor. Dann muss man schauen, ob man damit zurecht kommt und zufrieden sein kann. Mit meiner besten Freundin, mit der mich 40 in Freundschaft gelebte Jahre verbinden, muss ich manchmal monatelang nicht telefonieren oder sie treffen. Dennoch weiß jede von der anderen, dass sie zu jeder Zeit bei ihr auf der Matte stehen könnte und ohne Wenn und Aber Einlass bekäme. Und wenn wir uns dann mal wieder hören, ist es, als sei kein Tag seit dem letzten Gespräch vergangen.
Solche Freundschaften sind ein Geschenk - oder doch nicht so ganz, denn wir beide haben in all den Jahren auch eine Menge miteinander erlebt, geteilt und füreinander getan. Auf jeden Fall sind sie selten. Für mich ist es die einzige dieser Art, und damit bin ich auch gut zufrieden. Andere Freundschaften sind loser, aber auf ihre Art ebenso bereichernd - und auch da pflege ich nur wenige.
Bekannte wechseln. Mit ihnen erlebe ich manchmal intensive, tolle Zeiten, die aber irgendwann ihr Ende finden. Dann verläuft sich diese Beziehung wieder, und das finde ich auch völlig okay, denn dafür entstehen andere.
Das Gefühl der Einsamkeit ist mir seit jenen Tagen glücklicherweise erspart geblieben. Dennoch denke ich, dass man selbst die einzige Person ist, die es beenden kann.
03.04.2020 14:52 •
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