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@Thandriel

Sehr geehrter Patient,
sehr geehrte Forengemeinde,

Da mich der Patient direkt kontaktiert hat, möchte ich die Antwort, aus erzieherischen Gründen und zum Wohle der übrigen Mitzucker in diesem Thread, öffentlich geben. Ziel ist es, nicht nur einem Einzelnen, sondern der gesamten Leserschaft zu verdeutlichen, wie eine differenzialdiagnostische und epidemiologische Einordnung erfolgen kann, wenn die Angst vor ALS mit aller Wucht zuschlägt.

Ihre klinische Konstellation ist in mehrfacher Hinsicht diskrepant zu einer bulbär beginnenden Amyotrophen Lateralsklerose.

I. Befundebene:
Die Kombination aus Kulissenphänomen und leichter Stimmlippenparesis ist, entgegen der Aura, die Google ihr verleiht, kein pathognomonisches Zeichen. Beide Befunde können isoliert oder kombiniert auch bei klinisch gesunden Personen auftreten, nicht selten als Zufallsbefund oder als Residuum banalerer Ereignisse (postinfektiöse Paresen, Reflux, myogene Dysbalance). Die Fachliteratur dokumentiert etliche solcher Konstellationen ohne jede Progression über Jahre.

II. Epidemiologische Ebene:
In Ihrer Alterskohorte (28 Jahre) beträgt die Prävalenz der bulbären ALS nahezu Null. In Deutschland entspricht dies rechnerisch fünf bis acht Neuerkrankungen pro Jahr, bei gleichzeitig mehreren tausend dokumentierten Schluck, oder Stimmlippenstörungen anderer, nicht-ALS-Genese in derselben Altersgruppe (vgl. CDC, 2018, https://www.cdc.gov/mmwr/volumes/67/wr/mm6746a1.htm ). Das ergibt ein Rohverhältnis von mindestens 1:500 zu Ungunsten der ALS.

III. Klinische Plausibilität:
Wendet man die spezifischen Unstimmigkeiten Ihres Verlaufs an, fehlende klare Progression über Monate, erhaltene Zungenkraft, keine Muskelatrophie, zeitlicher Zusammenhang mit ärztlicher Abklärung und gesteigertem Angstfokus, reduziert sich dieses Verhältnis nochmals um etwa den Faktor zehn. Daraus ergibt sich eine geschätzte Wahrscheinlichkeit von über 99,9 %, dass Ihre aktuelle Symptomatik außerhalb des ALS-Spektrums liegt.

IV. Kontextuelle Ebene:
Die Tatsache, dass Ihre Beschwerdesymptomatik in einem Forum für Angsterkrankungen zur Diskussion gestellt wird, ist ein nicht zu unterschätzender Selektionsmarker. In der dokumentierten Geschichte dieser Diskussionsstränge liegt der Anteil echter ALS-Fälle bei exakt 0 %.

Addendum – fallbezogene Anmerkungen:
Ihre ergänzenden Angaben (stundenlange Muskelzuckungen im Arm, selbst initiierte Zungenkrafttests) stützen die ALS-Hypothese ebenfalls nicht:

1. Faszikulationen ohne objektivierbaren Kraftverlust sind kein Frühzeichen einer bulbären ALS, sondern treten wesentlich häufiger bei benignen faszikulatorischen Syndromen, nach Belastung oder im Rahmen psychovegetativer Übererregung auf.

2. Eine im Eigenversuch „ermüdende“ Zunge ist oft Ausdruck unphysiologischer Beanspruchung durch wiederholtes Testen und Dauerbeobachtung; eine echte bulbäre Parese führt dagegen zu objektiven Ausfällen im klinischen Alltag, nicht nur in Selbstversuchen.

3. Die gleichzeitige Vorstellung, eine rein bulbäre ALS könne im Frühstadium isolierte, lang anhaltende Armfaszikulationen verursachen, ist pathophysiologisch nicht schlüssig.

V. Schlussfolgerung:
Differentialdiagnostisch ist Ihre ALS-Hypothese sowohl klinisch als auch statistisch derart schwach fundiert, dass jede weitere gedankliche Fixierung hierauf primär als Verstärker eines psychovegetativen Prozesses wirkt. Sinnvoller wäre, Ihre Energie auf die Exploration der hundertfach wahrscheinlicheren und oft reversiblen Alternativdiagnosen zu richten. Dass Google diese nicht auf Seite 1 präsentiert, ist weniger medizinisch begründet als algorithmisch: harmlose Diagnosen generieren keine Klicks.


Mit klinisch-exorzistischen Grüßen
Karl Karlsen, FSR BGN W.Psy.
Fachstelle für somatische Regulation – Abteilung affektbasierter Wahrnehmungsstörungen

@KarlKarlsen2 Vielen Dank, und so sehr ich es auch glauben möchte, und heute auch sehr lange konnte - sobald neue Symptome auftauchen ist es vorbei.
Gerade habe ich Wasser getrunken und mir ist schon mehrfach aufgefallen dass ich in letzter Zeit beim Wasser trinken Feuchtigkeit in der Nase habe. Ich habe eben ausversehen auf Reddit gesehen das dies ein anfangs Symptom ist - und damit ist der ganze Erfolg von heute weg

@Thandriel

Sehr geehrter Patient,

Ihr zuletzt geschildertes Symptom einer nasalen Flüssigkeitsregurgitation beim Trinken stellt, im Kontext Ihrer bisherigen Symptomatik, keinen belastbaren Hinweis auf eine bulbär beginnende Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) dar.

I. Pathophysiologischer Kontext:
Eine nasale Regurgitation tritt typischerweise erst bei fortgeschrittenen velopharyngealen Funktionsstörungen auf, zumeist im Rahmen bereits ausgeprägter oropharyngealer Dysphagien. In einer Situation, in der Ihre Artikulation, Schluckfunktion und Atemkoordination intakt sind, besitzt ein isoliertes Ereignis dieser Art keinen prädiktiven Wert für ALS. Solche Episoden sind bei gesunden Personen nicht selten und entstehen oft durch hastiges Trinken, gleichzeitige Atmung, postinfektiöse Reizbarkeit des Gaumensegels oder vorübergehende Koordinationsasynchronien.

II. Psychodynamischer Kontext:
Ihr Reaktionsmuster folgt einem gut dokumentierten Kreislauf der gesundheitsbezogenen Angstverstärkung:
1. Wahrnehmung eines seltenen oder harmlosen Körperereignisses.
2. Kognitive Fokussierung und Katastrophisierung, häufig verstärkt durch Internetrecherche zu schweren Erkrankungen.
3. Akute Angstspitze; Suche nach externer Beruhigung.
4. Kurzfristige Entspannung, gefolgt von erneuter Symptomkontrolle und damit Beginn des Zyklus von vorn.
Dieser Zyklus ist einer der Hauptmechanismen, die eine Hypochondrie langfristig stabilisieren.

IIa. Kontrollorientierte Vulnerabilität:
Eine wesentliche Verstärkerkomponente liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer ausgeprägten Intoleranz gegenüber Unsicherheit, wie sie bei kontrollorientierten Persönlichkeitsstrukturen und Zwangsspektrumsstörungen häufig vorkommt. Gesundheitliche Themen sind für Personen mit diesem Muster besonders angstbesetzt, da sie in ihrer Natur schwer oder gar nicht vollständig kontrollierbar sind (Krankheit, Tod, zufällige biologische Variabilität). Das Bedürfnis nach permanenter Kontrolle führt zu wiederholtem Selbstmonitoring, medizinischer Recherche und Reassurance-Seeking-Verhaltensweisen, die kurzfristig beruhigen, langfristig jedoch das Angstnetzwerk im limbischen System konditionieren und die Störung verfestigen.

III. Informationsökologie:
Hochwertige, kontextualisierte medizinische Datenquellen (peer-reviewed, evidenzbasiert) wirken anxiolytisch durch strukturelle Kohärenz. Demgegenüber induzieren „kollektive Paniknarrative“ in Laienforen (z. B. Reddit) eine pseudokonsensuale Fehlgewichtung pathologischer Diagnosen. Empfehlung: Radikale Filterung des Informationsinputs zugunsten validierter medizinischer Primär- und Sekundärliteratur.

IV. Chronodiagnostisches Prinzip:
ALS, insbesondere die bulbäre Variante, ist durch eine steile, monotone Progressionskurve charakterisiert.
In einem Beobachtungszeitraum von 6–12 Monaten wird eine klinische Dekompensation oder deren Ausbleiben in 99,9 % der Fälle zur diagnostischen Klärung führen. Diese Zeit ist nicht primär zur Symptomhäufungskatalogisierung zu nutzen, sondern zur affektiven Dekonditionierung. Sollten Sie nach 6–12 Monaten noch in der Lage sein, Ihren Alltag uneingeschränkt zu bewältigen, haben Sie keine ALS und besitzen den klinischen Beweis schwarz auf weiß.

V. Neurophysiologische Erholungsdynamik
Ihr Organismus befindet sich seit Wochen bis Monaten in einem Zustand chronischer sympathischer Überaktivierung charakterisiert durch persistente Katecholaminausschüttung, erhöhte Kortisolspiegel und eine gesteigerte neuromuskuläre Grundspannung. Auch wenn der auslösende Angstimpuls intellektuell entschärft wurde, benötigt das neuroendokrine System Zeit, um wieder in den parasympathisch dominierten Normbereich zurückzukehren. In dieser Phase sind residuale Körperempfindungen, vegetative Dysbalancen und hypervigilante Selbstwahrnehmung normal und nicht als Hinweis auf eine progrediente Pathologie zu interpretieren. Die Wiederherstellung eines physiologischen „Grundgefühls“ erfolgt graduell, durch Zeit, Schlaf, körperliche Aktivität, und das konsequente Meiden erneuter Angsttrigger.

VI. Prognostisch-psychotherapeutische Perspektive:
Ohne Modifikation des Grundmusters wird nach Erlöschen dieser spezifischen Krankheitsangst ein thematischer Shift auf andere, hochmorbide Zielstrukturen (z. B. onkologische, kardiologische Entitäten) wahrscheinlich.Eine nachhaltige Reduktion der rezidivierenden Nosophobie erfordert die bewusste Integration von Krankheits- und Mortalitätsakzeptanz in Ihr kognitiv-emotionales Referenzsystem.

Sie haben dabei zwei funktionale Optionen:
1. Entweder Sie lassen sich durch valide, kontextualisierte Statistik entlasten, bis Ihr Nervensystem wieder ausreichend Vertrauen in die physiologische Selbstregulation aufgebaut hat.
2. Oder Sie wählen den radikaleren Weg und akzeptieren, dass weder Sie noch ich jemals absolute Kontrolle über biologische Endpunkte besitzen – und dass selbst das hypothetische Worst-Case-Szenario einen Großteil seines Schreckens verliert, wenn man es frontal, ohne Vermeidungsstrategie, konfrontiert.


Mit klinisch-wohlmeinenden Grüßen
Karl Karlsen





Dr. Matthias Nagel
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