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L
Hallo,

ich bin fast immer übertrieben höflich/vorsichtig und will andere auf keinen Fall stören. Dadurch wirke ich schüchtern und ängstlich. Aber eigentlich verhalte ich mich BEWUSST und aus ÜBERZEUGUNG so und erwarte diese Rücksichtnahme auch von anderen mir gegenüber.

Meine Frage: Sind das wirklich Ängste oder ist bewusste Höflichkeit/Rücksichtnahme etwas anderes?

Beispiel:
Ich gehe an einem Büro einer Kollegin vorbei und sage nur hallo. Andere würden vielleicht stehen bleiben und die Kollegin in Smalltalk verwickeln, aber ich möchte sie bewusst nicht von ihrer Arbeit abhalten, falls sie sich gerade konzentrieren muss.

Jetzt kann man das als Angst deuten, aber ich handle ja bewusst und aus Überzeugung so. Sind das trotzdem Ängste?

Anderes Beispiel:
Ich laufe am Balkon meiner Nachbarin vorbei und grüße sie nicht, obwohl ich wahrgenommen habe, dass jemand auf dem Balkon ist. Ich grüße sie extra nicht, um ihr nicht das Gefühl zu geben, dass sie beobachtet wird und damit sie auf dem Balkon ihre Privatsphäre hat. Nach außen hin wirkt mein Verhalten wieder wie Schüchternheit/Angst, aber eigentlich verhalte ich mich bewusst so und finde es befremdlich und aufdringlich, wenn man Leuten von Weitem etwas zuruft.


Es gibt noch etliche andere Beispiele aus meinem Leben, wo ich schüchtern wirke, aber in Wirklichkeit einfach jemanden nicht bedrängen und ihm seinen Freiraum lassen möchte.

Ich bin auch so erzogen worden, dass man immer sehr freundlich, höflich, vorsichtig sein muss.

Sind das Ängste?
Hat ein sozial ängstlicher Mensch auch solche Gedanken (Will den anderen aus Überzeugung nicht stören.)?
Ich empfinde mein übertrieben rücksichtsvolles Verhalten als richtig. Empfindet dagegen ein sozialängstlicher Mensch sein Verhalten als falsch?

Ich wüsste gern, wo ich bei mir ansetzen muss, um besser mit anderen klarzukommen und nicht als schüchtern wahrgenommen oder missverstanden zu werden. Vielleicht muss ich gar nicht bei Ängsten ansetzen, sondern meine Überzeugung, immer übertrieben höflich sein zu müssen, überwinden? Aber diese Überzeugung ist so tief in mir verankert, dass ich normale und gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensweisen der anderen oft kritisch sehe (plump, aufdringlich, rücksichtslos) und mein vorsichtiges Verhalten dagegen als angemessen und richtig empfinde.

Seht ihr einen Unterschied zwischen sozialen Ängsten und meinen Überzeugungen oder ist es das Gleiche? Wie könnte ich diese starke Überzeugung, immer vorsichtig sein und Rücksicht nehmen zu wollen/müssen, loswerden?

Empfindet ihr mein geschildertes Verhalten als schüchtern (vor dem Hintergrund, dass ich absichtlich so handle und mir das auch von anderen wünsche)?

Danke und LG

29.05.2021 10:19 • 27.06.2021 x 2 #1


42 Antworten ↓


Calima
Zitat von Lex6543:
Seht ihr einen Unterschied zwischen sozialen Ängsten und meinen Überzeugungen oder ist es das Gleiche?

Deine Überzeugung ist die Folge deiner sozialen Ängste. Vordergründig willst du andere schützen, in Wahrheit geht es aber immer nur darum, mögliche negative Reaktionen der Menschen auf dich zu vermeiden, indem du ihnen keine Angriffsfläche bietest.

Die Überlegungen hinter deinem Vermeidungsverhalten sind angsttypisch sehr konstruiert und überzogen. Jemanden nicht zu grüßen, um zu verhindern, dass dieser sich nicht beobachtet fühlt, ist kein normales Verhalten.

Dein Denken kreist nur darum, möglichst vorauszusehen, was andere an negativen Dingen über dich denken könnten und dich so zu verhalten, dass sie das nicht tun. Zugrunde liegt die Angst vor negativer Bewertung- und die ist schlicht eine starke soziale Angst.

Die Überzeugung ist nur ein gut trainierter Schutzmechanismus, der inzwischen sicher auch von der Erfahrung gestützt wird, dass er erfolgreich funktioniert und dir doofe Reaktionen deiner Mitmenschen erspart bleiben. Indem du dir einredest, dass du aus Überzeugung und nicht aus Angst handelst, verdrängst du aber auch erfolgreich die Auseinandersetzung mit dieser.

Zitat von Lex6543:
Wie könnte ich diese starke Überzeugung, immer vorsichtig sein und Rücksicht nehmen zu wollen/müssen, loswerden

Das zeigt, dass die Angst trotz allem Leidensdruck generiert. Du wirst das aber nur verändern können, wenn du dich deiner Angst stellst, dich mit ihr kritisch auseinandersetzt und bereit bist zu akzeptieren, dass du den Versuch der Kontrolle über die möglichen Reaktionen anderer aufgeben musst.

Haben tust du sie ohnehin nicht, du glaubst es nur. In Wirklichkeit sind es nur deine eigenen Gedanken, die du Leuten in die Köpfe konstruierst. Damit kannst du aber nicht verhindern, dass sie denken, was sie wollen.

Zum Beispiel, dass du ein recht unhöflicher Nachbar bist, der so tut, als würde er einen nicht sehen, damit er nicht grüßen muss.

29.05.2021 10:40 • x 3 #2


A


Soziale Angst vs bewusste Höflichkeit/Rücksichtnahme

x 3


G
Das ist ein sehr interessantes Thema.
Ich kann dich komplett nachvollziehen, da es mir identisch geht. Und das nicht aus Schutz vor komischen Reaktionen, sondern wie du schon schreibst, aus Höflichkeit und Rücksichtnahme. Oder auch, weil ich mir erhoffe, dass andere genau so mit mir umgehen.
Manchmal will man einfach seine Ruhe haben und eben nicht den Nachbarn "auf die Pelle rücken".
Wenn man sich gegenseitig wahrgenommen hat, natürlich grüße ich dann auch, ist die Person hingegen grade beispielsweise in ein Buch vertieft, dann störe ich nicht. Eben weil ich selbst dabei nicht gestört werden will.
Ja, vielleicht wirkt das unhöflich auf andere. Hier kommt aber der Punkt, es ist mir dann egal. Weil ich es mir andersherum so wünschen würde.

Ich denke nicht dass dieses Verhalten direkt Ängste aufzeigt, eher sehe ich es als charakterliche Eigenschaft an. Nich jeder Mensch will mMn pausenlos im aktiven Kontakt mit anderen stehen, auch ganz ohne Bezug auf irgendwelche sozialen Phobien.

29.05.2021 11:34 • x 2 #3


Calima
Zitat von GrüneBlume:
Oder auch, weil ich mir erhoffe, dass andere genau so mit mir umgehen.

Genau das ist aber doch der Punkt: es geht um Kontrolle des Verhaltens der anderen.

29.05.2021 11:45 • x 2 #4


G
@Calima das kann schon sein, aber hat das etwas mit einer Angst zu tun?
Ich habe ja keine Angst davor dass mich andere ansprechen/grüßen oder der gleich ich will es manchmal einfach nicht

29.05.2021 11:46 • #5


L
Danke euch. Da scheint es ja schon unterschiedliche Ansichten zu geben. Also bisher wurde ich beim Psychologen/Psychiater wirklich mit sozialer Angst bzw. ängstlicher Persönlichkeit diagnostiziert. Im späteren Verlauf der Therapie wurde auch ein starker schizoider Anteil herausgestellt.

Hatte auch schon Verhaltensübungen etc. Aber diese Überzeugung, dass mein Verhalten eigentlich richtig ist (wie ich es seit Kindheit gelernt habe), ist leider so stark ausgeprägt.

Hatte auch oft Kontakt in SHGs mit anderen Ängstlichen, da schämen sich die meisten für ihr Verhalten und stellen es in Frage, während ich richtig überzeugt von meinem Verhalten bin und ANDERE, die nicht so höflich/vorsichtig etc. sind, vorschnell verurteile. Ich breche sehr schnell Kontakt zu Leuten ab, wenn sie meiner Meinung nach nicht sensibel genug sind oder was Falsches gesagt haben (irgendein unpassender Spruch).

Wo könnte ich noch ansetzen? Ich will eigentlich normal sein und nicht ständig auf Rücksichtnahme gepolt. Gleichzeitig kann ich mich mit normalem Verhalten der anderen (z.B. direkt viel über sich selbst erzählen, sich mit Witzen/Sprüchen in den Mittelpunkt stellen) überhaupt nicht identifizieren und will gar nicht so sein.

Ich sehe bei anderen auch immer schnell angeberisches oder egozentrisches Verhalten, z.B. einen Monolog über irgendwas aus ihrem Leben, während ich immer sehr darauf achte, den anderen durch Rückfragen einzubinden und auf dessen Reaktion zu achten.

Wie komme ich aus diesem Dilemma raus, normal sein zu wollen (weil dann alles einfacher wäre und man besser klarkommt), aber gleichzeitig auch wiederum gar nicht so sein zu wollen?

Hast du einen Leidensdruck oder eine psychische Erkrankung/Diagnose? @GrüneBlume

29.05.2021 11:47 • #6


4_0_4
Zitat von GrüneBlume:
das kann schon sein, aber hat das etwas mit einer Angst zu tun?

Kontrollverlust = Angst

29.05.2021 11:56 • #7


G
Kontrollverlust? Nein.. es ist einfach nur ein Verhalten dass ich mir von anderen wünschen würde. Das sehe ich nicht so, nein.


Nein ich habe keine Diagnosen, auch wenn ich einige Sitzungen beim Therapeuten hinter mir habe. Vielleicht wars der falsche, das kann sein. Ich selbst bin aber durchaus der Meinung dass es eine Angststörung ist was mir das Leben gelegentlich schwer macht. Grade im Bezug auf Krankheitsängste.
Vielleicht könnte auch eine Schwäche im sozialen bestehen, aber da mich hier meine Abneigung von verschiedenen Dinge nicht beeinträchtigt oder belastet sehe ich es eher als Charakterzug. Bin einfach gern mit mir allein

29.05.2021 12:06 • x 3 #8


Schlaflose
@Lex6543 Ich verhalte mich immer genauso wie du und habe die Diagnose soziale Phobie und ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung. Mein Verhalten hat definitiv damit zu tun.

29.05.2021 12:13 • #9


L
@Schlaflose
Verhältst du dich denn absichtlich und aus Überzeugung so oder nur, weil du aus Angst nicht anders kannst?

29.05.2021 12:17 • #10


Schlaflose
Zitat von Lex6543:
@Schlaflose Verhältst du dich denn absichtlich und aus Überzeugung so oder nur, weil du aus Angst nicht anders kannst?

Das kann ich nicht trennen. Am Anfang war es vielleicht Angst, aber ist zu einem Automatismus geworden.

29.05.2021 12:37 • x 1 #11


L
Bei mir geht es nicht so sehr um das vermeidende Verhalten (jemanden auf dem Balkon nicht ansprechen), das haben viele Sozialphobiker, sondern um die starke Überzeugung, dass es richtig ist, dem anderen seine Privatsphäre zu lassen. Aber dadurch wirke ich oft schüchtern, als würde ich in Wahrheit gern ein Gespräch anfangen, aber könnte mich nur nicht dazu überwinden, was aber eben nicht der Fall ist.
Wenn bspw. ein Handwerker in der Wohnung ist, begrüße ich ihn, biete ihm was zu trinken an etc., aber suche dann beim Arbeiten oft bewusst nicht das Gespräch oder gehe sogar in den Nebenraum, damit er in Ruhe arbeiten kann und sich nicht kontrolliert/beobachtet fühlt wie vielleicht bei anderen Kunden. Ich möchte oft ein Gegengewicht zu rücksichtslosem/egoistischem Verhalten anderer Menschen bilden (vielleicht weil mein Vater so war). Was aber auch schon irgendwie zwanghaft ist und oft zu der Annahme führt, ich wäre schüchtern.

29.05.2021 12:48 • #12


E
Zitat von Lex6543:
Ich empfinde mein übertrieben rücksichtsvolles Verhalten als richtig.

Es wundert mich etwas, dass du dein Verhalten zugleich als übertrieben und richtig bezeichnest.

Ich finde es unhöflich, die Nachbarin auf dem Balkon nicht zu grüßen.

29.05.2021 12:52 • #13


Idefix13
@Schlaflose
Es geht aber doch um Aufmerksamkeit und deshalb versuchst du es zu vermeiden, das denke ich, weil es mir so geht.
Deshalb vermeide ich es. Und absichtlich vermeiden, wegen Aufmerksamkeit ist gleichbedeutend mit 'Angst'!

29.05.2021 12:52 • #14


L
Nein, es geht mir nicht darum, Aufmerksamkeit zu vermeiden.
Ich stehe manchmal gern im Mittelpunkt. Es geht mir hauptsächlich darum, dass sich der andere gut und nicht bedrängt fühlen soll, weil ich das Verhalten anderer Menschen selbst oft als übergriffig und unsympathisch empfinde.

Ich weiß nicht, ob die Nachbarin mich überhaupt wahrgenommen hat. Der Balkon liegt im Hochparterre mit schwarzem Sichtschutz und sie saß wohl gerade und war kaum zu sehen. Ich dachte mir nur, dass andere stehen geblieben und irgendwas gerufen hätten oder Gespräche angefangen hätten, ich das aber absichtlich nicht gemacht habe.
Ich nehme sonst viele Pakete für die Nachbarin an, habe auch manchmal Kontakt per WhatsApp zu ihr, grüße sie im Flur/auf der Straße ganz normal freundlich. Es geht wirklich um diese Situation Balkon - will nicht extra so genau hingucken, um ihr ihre Privatsphäre zu lassen.

29.05.2021 12:58 • #15


Schlaflose
Zitat von Lex6543:
Bei mir geht es nicht so sehr um das vermeidende Verhalten (jemanden auf dem Balkon nicht ansprechen), das haben viele Sozialphobiker, sondern um die starke Überzeugung, dass es richtig ist, dem anderen seine Privatsphäre zu lassen. Aber dadurch wirke ich oft schüchtern, als würde ich in Wahrheit gern ein ...


Das liegt aber daran, weil du dich aufgrund der sozialen Phobie in solchen Situationen selbst gestört oder beobachtet fühlen würdest und gehst davon aus, dass es den anderen genauso geht.

29.05.2021 13:00 • #16


Idefix13
@Lex6543
Ich sprach mit schlaflose
Deshalb habe ich auch sie mit einem '@' erwähnt.

29.05.2021 13:02 • x 1 #17

Sponsor-Mitgliedschaft

L
@Idefix13
Sorry, das habe ich übersehen.

29.05.2021 13:03 • x 1 #18


G
@Lex6543
Ich denke das einzige "unnormale" Verhalten an der Sache ist, dass du "eine Sache" draus machst
Kann dich da wirklich 1:1 nachvollziehen und sehe daran absolut nichts unnormales.
Hat man sich gegenseitig gesehen- höflicher Gruß. Hat man sich nicht gegenseitig gesehen, vielleicht die andere Person sogar wissentlich so getan als hätte sie einen nicht gesehen.. geht man man eben seinen Dingen nach ohne sich anderen aufzudrängen. Ich find das vollkommen normal.
Auch mein Partner, der null Psychische "Probleme" hat hält es genauso. Aber Vielleicht ist er auch nur unhöflich

29.05.2021 13:04 • x 2 #19


Schlaflose
Zitat von GrüneBlume:
Ich denke das einzige unnormale Verhalten an der Sache ist, dass du eine Sache draus machst

Das finde ich auch. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mir darüber Gedanken zu machen, ob mein Verhalten der sozialen Phobie geschuldet ist oder nicht. Ich bin, wie ich bin und damit hat sich die Sache

29.05.2021 13:09 • x 2 #20


A


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