Zitat von Ja02: Ist das Gefühl von „Selbst“ vielleicht etwas, das man bewusst beeinflussen kann, oder sind wir einfach Opfer der Reaktionen, welche wir auf unsere sogenannte Umwelt haben?
Wenn ich den Psychiater richtig verstanden habe, den ich wegen meinen (von mir vermuteten) Dissoziierungen gefragt habe, resultiert das Selbstgefühl aus der Interaktion neurobiologischer, kognitiver aber halt auch affektiver Prozesse.
Das umfasst dann das autonoetische Bewusstsein (also das narrative Selbst) und das präreflexive Ich-Erleben (also das minimale Selbst).
Eine Störung in diesen zvg. Systemen, zB durch Stress, Traumata oder halt auch neurodegenerative Prozesse, zeigen sich dann häufig als Depersonalisation oder Dissoziation. Letzteres erlebe ich zB täglich und hab es auch gerade beim Schreiben. Es kommt und geht.
Neuronal sind dabei der mediale präfrontale Cortex, der posteriore cinguläre Cortex und das limbische System an der ganzen Selbstintegration maßgeblich beteiligt und die Fehlfunktionen dieser Netzwerke können zu einer gestörten Selbstverankerung (die Verankerung ist das eigtl. Problem) führen, die sich dann in einer reduzierten Affektmodulation, Exekutivkontrolle und interozeptiven Kohärenz zeigt, wobei letzteres dann bedeutet, seinen Körper
emotional nicht mehr richtig wahrnehmen zu können (Herz, Atmung, Muskeln, Darm).
Therapeutisch sind dann halt zB metakognitive Ansätze, die Achtsamkeitsintervention (die außenorientiere Entspannung hilft mir ganz gut - 5 Objekte, die ich sehen, hören und fühlen kann, absteigend fortfahren, also 4, 3, 2 usw) und kognitive Umstrukturierung ziemlich effektiv, um die Selbstkohärenz wieder zu stabilisieren bzw. das Selbstgefühl zu verankern, aber weil das Selbstgefühl mehrheitlich unbewusst reguliert wird, bleibt die willentliche Steuerung halt auch stark begrenzt - um es nicht als Opfer bezeichnen zu wollen.
Es ist also auch nicht ungewöhnlich, dass du davon überrannt wirst. Wenn die Depersonalisation oder die Dissoziierung losgeht, kann versucht werden gegenzusteuern, aber idR kommt sie und geht wieder, wie es das Unterbewusstsein für richtig hält.
Zitat von Ja02: Wären wir eigentlich noch dieselben Menschen, wenn wir uns nicht mehr mit uns selbst verbunden fühlen?
Ob wir dieselben wären, hängt vllt. von der Definition von Identität ab.
Wenn die Identität auf stabilen Erinnerungen und der Selbstwahrnehmung basiert, könnte eine andauernde Entfremdung mMn als Veränderung gelten. Neurobiologisch spielen halt das autobiografische Gedächtnis, die Körperwahrnehmung und die emotionale Kohärenz eine wichtige Rolle. Ist die Identität aber ein dynamischer Prozess, bleibt das Ich trotz der Veränderungen theoretisch bestehen.
Letztlich ist es also schon etwas unklar, ob wir nur unser Erleben sind oder etwas, was darüber hinausgeht.
Zitat von Ja02: Und warum fällt es mir leichter, solche Fragen anderen zu stellen oder zu beantworten, während ich selbst derbe Schwierigkeiten habe, eine klare Antwort auf meine eigenen, existenziellen Zweifel zu finden?
Hm, weil die Reflexion über andere ja oft mit viel mehr Distanz erfolgt und du weniger involviert bist, als bei der Selbstreflexion. Du bist ja nicht ich, also bin ich nicht in deine Emotionen bzw. Affekte und Kognitionen verstrickt.
Wenn wir zB über fremde Fragen nachdenken, nutzen wir ja vorwiegend eher analytische, kognitive Prozesse, während wir zB bei existenziellen Selbstzweifeln ganz tief in unsere Emotionen und unbewussten Überzeugungen reingehen.
Außerdem sind eigene Zweifel oft halt auch viel komplexer und vielschichtiger, weil sie mit ganz vielen persönlichen Erfahrungen, unseren Ängsten und den Widersprüchen verbunden sind, die wir leben.
Das Gehirn neigt dann dazu, bei anderen viel schneller die Muster zu erkennen und Lösungen zu formulieren, während es bei sich selbst aber in endlooosen Feedbackschleifen hängenbleiben kann.
Kurz gesagt: Andere zu analysieren ist eher kognitiv, sich selbst zu verstehen oft emotional - und Emotionen sind viel schwerer zu ordnen als Gedanken, weshalb es dann zB Therapeuten gibt, die in manchen Fällen dabei helfen können, diese Emotionen zu ordnen, weil sie die Muster von außen sehen.