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Kolumne Was Wissen schafft

Achtung! Dieser Artikel verändert Ihr Gehirn
29.10.2014 12:22 Uhr
von Hartmut Wewetzer


Die Umwelt beeinflusst das Gehirn und unser Denken auf vielerlei Weise. Das zeigt, dass die Trennung von Körper und Geist unsinnig ist, meint unser Autor.

Es klingt zunächst wie eine Übertreibung, aber es ist eine Tatsache: Dieser Artikel wird Ihr Gehirn verändern. Das Lesen und Verstehen eines Artikels in der Zeitung oder im Internet (und jedes anderen Textes) ist für das Gehirn eine vertrackte Aufgabe. Buchstaben müssen entziffert, Wörter erkannt, Sätze verstanden und schließlich die Bedeutung hinzugefügt werden. Damit das funktioniert, müssen Botenstoffe im Gehirn ausgeschüttet, bioelektrische Impulse weitergeleitet und Verbindungen zwischen Nervenzellen geknüpft werden.
Deshalb also verwandelt das Lesen dieser Zeilen Ihr Gehirn. Vielleicht sogar auf längere Zeit, falls Sie Teile des Textes im Gedächtnis behalten. Worauf sonst sollte die Lektüre einen Einfluss haben, wenn nicht auf das Gehirn? Muskeln, Leber und Nieren bestimmt nicht, oder nur sehr indirekt.

Trotzdem erregt es immer noch Aufsehen, wenn jemand über ähnliche Prozesse im Gehirn berichtet. Jüngstes Beispiel ist eine Studie von Berliner und Leipziger Wissenschaftlern. Die Forscher um Julia Sacher vom Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften hatten beobachtet, welche Veränderungen der gegen Depressionen gerichtete Wirkstoff Escitalopram im Gehirn verursacht. „Eine einzige Dosis eines Antidepressivums genügt, um dramatische Veränderungen in der funktionalen Architektur des Gehirns hervorzurufen“, hieß es in der Pressemitteilung zu der im Fachblatt „Current Biology“ veröffentlichten Untersuchung. Das genügte, um weltweit Schlagzeilen zu machen.
Eine interessante Studie, allerdings wohl eher für Fachleute, wie der kritische Blogger „Neuroskeptic“ feststellte. Denn die „dramatischen Veränderungen“ waren letztlich subtiler Natur. Das Kommunikationsverhalten der Nervenzellen in verschiedenen Hirnarealen änderte sich, wurde schwächer oder stärker. Aber es war nicht etwa so, dass die Anatomie sich messbar verformte und Hirnlappen anschwollen oder schrumpften. Stattdessen tat das Gehirn, was es immer tut. Es reagierte auf Reize, indem es seine Aktivität veränderte. Beim Sehen und Lesen, beim Riechen, Schmecken und Hören und bei unzähligen anderen Tätigkeiten macht es das. Es ist die Aufgabe des Gehirns, zu reagieren. Und das, indem es sich verändert. Ständig. Die meisten dieser Veränderungen sind kurzzeitig und hinterlassen keine weiteren Spuren. Sie gleichen dem flüchtigen Kräuseln des Wassers auf der Oberfläche eines Sees.
Was das Gehirn verändert, muss irgendwie schlecht sein
Doch die Öffentlichkeit fasziniert (und erschreckt) am „veränderten Gehirn“ womöglich etwas anderes. Einer verbreiteten Vorstellung nach ist das Denkorgan „unveränderlich“. Als graubrauner Gewebeklumpen thront es in unserem Schädel, so unansehnlich wie unwandelbar, ein Denkmal seiner selbst. Jede „Veränderung“ muss vor diesem Hintergrund als schwerwiegend und vermutlich riskant erscheinen. Als Eingriff, der das Gehirn in seiner Integrität antastet und gefährdet. Setzt man es mit einem Computer gleich, dann kann die Beeinflussung dazu führen, dass etwa Festplatte oder Prozessor beschädigt werden. Ist die Hardware erst defekt, dann hat auch die Software Probleme. Und die Software, das sind im Fall des Gehirn-Computers natürlich unser Ich, unsere Persönlichkeit, unsere Fähigkeiten. Also alles, was uns wichtig ist. Daher die Angst vor Veränderung im Kopf.
Es scheint, dass die Seele auf eine Festplatte namens Hirnrinde gebannt ist, eine immaterielle „Information“ auf einem materiellen Speicher. Das ist ein eingängiges und vordergründig erhellendes Bild. Aber es ist falsch. Denn das Gehirn trennt nicht zwischen Hard- und Software. Es ist beides in einem. Die Zweiteilung von Körper und Geist mag in unser Denken eingebrannt und, wie der Sprachgebrauch es nahelegt, fest in unserer Kultur verankert sein. In der Realität jedoch sind Körper und Geist eins, genauer gesagt zwei Seiten einer Medaille.
Deshalb sollte es kaum jemanden verwundern, dass Psychopharmaka das Gehirn und seine Funktionsweise beeinflussen. Das ist schließlich die Aufgabe dieser Medikamente. Oder, um ein Beispiel aus der „geistigen“ Sphäre zu nennen, die Aufgabe der Psychotherapie. Auch psychotherapeutische Verfahren wie die Psychoanalyse oder die Verhaltenstherapie wirken sich nämlich nachweislich und naturwissenschaftlich messbar auf das Gehirn aus. Alles andere wäre dagegen wirklich ein Wunder.

Quelle : Tagesspiegel

03.07.2015 23:36 • 04.07.2015 #1


4 Antworten ↓


Anschana
Sehr interessanter Artikel. Danke!

Und hier sieht man wieder deutlich, wie die Bedeutung der Worte dramatisch und Veränderung dahin positioniert werden, wo man sie haben will.

Dramatische Veränderungen können auch positiv sein. Z.B. Kann doch das Knacken des Lottojackpots eine dramatische Veränderung darstellen.

Lg, Anschana

04.07.2015 11:34 • #2


A


Eine Tablette verändert schon das Gehirn

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S
Eben. Ich musste so lachen als ich das las.

Die Vorstellungen mancher Menschen haben mit naturwissenschaft und Logik rein gar nix zu tun.

04.07.2015 12:44 • #3


S
Ist genauso gut wie die Aussage Medikamente sind Chemie.
Gibt es irgendwas auf dieser Welt , was nicht Chemie ist?
Oder die Aussage , dass natürlich gleich gut ist. Die giftigsten Stoffe wachsen in Pflanzen oder Tieren.

Es gilt immer noch die Vorstellung, dass Chemie automatisch schädlich ist , was absolut nicht so sein muss.

04.07.2015 12:49 • #4


Anschana
So ist das. Es kommt immer auf die Sichtweise an und ganz klar auf die Art und Weise der Manipulation. Wenn RTL morgen einen Sonderbericht senden würde, dass neue Erkenntnisse ergeben haben, dass man bei dieser Hitze nichts trinken darf und extrem viel Sport in der prallen Sonne treiben soll, damit man genug UV-Strahlen aufnimmt ... Halleluja! Ich will nicht wissen, wieviele RTW dann unterwegs wären, weil die meisten Menschen Informationen ohne zu hinterfragen konsumieren.

04.07.2015 16:00 • #5






Dr. med. Andreas Schöpf