Hallo miteinander,
kürzlich war ich an einem hiesigen Thread über Glauben und psychische Erkrankung beteiligt, der m. E. inhaltlich leider nicht klar formuliert war. Zumindest kam es zu Missverständnissen und letztendlich wurde das Thema selber irgendwie beendet.
Mit (m)einem geistigen Bruder tauschte ich dann diesbezüglich zwei E-Mails aus und einen Tag später schickte er mir seinen verbalen Abrieb zu diesem Thema. Da er vieles besser formuliert als ich und überdies die Gabe besitzt, ein Fazit aus (s)einem internen Austausch zu bilden, möchte ich es hier unkommentiert jenen zur Lektüre anbieten, die sich nicht mit dem Glauben an XY sondern mit Glauben überhaupt (im existenziellen Kontext) näher beschäftigen wollen.
Ich könnte mir vorstellen, dass es auch für Menschen interessant wäre, die mit ihrem Glauben (oder den Folgen daraus) in irgendeiner Weise hadern. Für überzeugte Gläubige wird der Text eher weniger interessant sein. Sollten jene zudem zu Empfindlichkeit bei (vermeintlicher) Glaubenskritik neigen, empfiehlt sich die Lektüre nicht.
__()__
moo
---
Man will's ja nicht glauben!
Es gibt den durchaus wahren Spruch: Glauben heißt, nicht wissen. Denn was ich weiß, das muss ich nicht länger glauben. Da wir aber nun einmal nicht alles wissen können (und auch gar nicht müssen), sind wir in vielen Bereichen darauf angewiesen, dieses Nichtwissen bei Bedarf durch den Glauben vertreten zu lassen. Dies ist völlig unproblematisch, solange uns dieser Unterschied klar bewusst bleibt und wir nicht, von einer plötzlichen Amnesie befallen, den Glauben mit Wissen verwechseln und so zu einer Tatsache adeln.
Es gibt zwei Arten, das Verb glauben zu verwenden.
Einmal umgangssprachlich, im Sinne einer Vermutung: Wo ist denn die Bohrmaschine? Ich glaube, sie liegt im Keller. Wenn sich dann herausstellt, dass sie sich in der Garage befindet, ist das jedoch kein Drama; es war nur eine Vermutung, dass es sich so verhält. Wenn sich diese Vermutung als falsch herausstellt, wird kein fundamentales Weltbild erschüttert. Unterschiedliches Glauben in diesem Sinne hat noch zu keinem Streit oder gar Blutbad geführt.
Ganz anders sieht die Sache beim religiösen Glauben aus. Hier ist das Glauben – vor allem der Glaube an unüberprüfbare Aussagen – eine Conditio sine qua non. Solche unabdingbaren Voraussetzungen sind keineswegs egal und würden, in Frage gestellt, das ganze Glaubensgebäude zum Wanken bringen: Es kann nicht sein, was nicht sein darf! Aber vor allem kann nur sein, was sein muss. Aber woher kommt diese zwanghafte Fixierung?
Nun, es ist klar, dass der Glaube in Form einer belanglosen Vermutung – ob sich die Bohrmaschine im Keller oder der Garage befindet, oder ob nun Timo den Nudelsalat mitbringt oder Sabine – uns nicht existenziell berührt. Ganz anders sieht die Sache aus, wenn wir uns mit Alter, Krankheit, Tod, Trennung, Verlust und Trauer konfrontiert sehen. Diese Lebensfaktoren kann man sicher auch leugnen und glauben unverwundbar und unsterblich zu sein, nur handelt es sich hierbei weniger um einen Glauben, als um einen Wahn, der sich in einem solchen Fall für die betreffende Person aber als ein Glaube manifestieren mag. Religiös gläubige Menschen hingegen leugnen nicht die - milliardenfach empirisch
belegte Tatsache - der Vergänglichkeit allen Seins.
Aber genau aus dieser Tatsache wächst die Unwissenheit, welche die entsprechenden und unbeantwortbaren Fragen aufwirft: Wo komme ich her? Warum bin ich überhaupt da? Wird es nach dem Tod weitergehen und wenn ja: wie? Wieso ist überhaupt alles so, wie es ist?
Die fehlenden Antworten führen zu Ängsten, welche im Trubel des Alltags eher latent vorliegen, im Falle lebensbedrohlicher Situationen – für uns selbst oder diejenigen, die uns am Herzen liegen – akut hervorbrechen.
Es ist kein psychologisches Novum, dass Ungewissheit Ängste erzeugt und wir deshalb alles tun, um diese unangenehmen Gefühlszustände zu beseitigen. Wie können wir aber Ungewissheit beseitigen?
Indem wir eine Gewissheit simulieren und das Nichtwissen mit Wissen simulierendem Glauben überziehen und so der Ungewissheit den Schrecken nehmen.
Dies funktioniert solange gut, bis Andersgläubige an diesem Überzug ziehen und den, Sicherheit versprechenden, Glauben in Frage stellen und dadurch die verborgenen Ängste wieder freilegen.
In abgeschlossenen, homogenen Glaubensgemeinschaften besteht diese Gefahr kaum bis gar nicht. Eventuell auftretende Störfaktoren werden von der großen Masse Gleichdenkender auf die eine oder andere Weise neutralisiert. Schwieriger wird es in einer pluralistischen Gesellschaft, in der über mannigfaltige Medien die unterschiedlichsten Glaubensangebote dargeboten werden. Hier offenbart sich der Zwillingsbruder, der mit jedem Glauben geboren wird: der Zweifel.
Wenn es der Ignoranz nicht mehr möglich ist, andere Erklärungsmodelle für unsere Daseinsproblematik auszublenden, springt ihr die Arroganz hilfreich zur Seite. Natürlich gibt es viele andere Glaubensrichtungen, aber diese sind ja aus einer falschen, verzerrten Ansicht heraus geboren. Der eigene Glaube hingegen ist der einzig wahre, und daher sind alle anderen die Falsch- oder gar Ungläubigen (was sie somit minderwertig macht und zur Bekehrung und Missionierung freigibt und beim Scheitern dieser Bemühungen auch eine Eliminierung rechtfertigt. Siehe menschliche Kulturgeschichte.)
Für Menschen, die Ignoranz und Arroganz nicht als wertvolle Charaktereigenschaften betrachten, wird sich früher oder später der Zweifel durchsetzen, denn es gibt nicht nur sehr viele verschiedene poly-,
mono- und atheistische Glaubensrichtungen, sondern, bei genauerer Betrachtung, etwa so viele Glauben wie es Gläubige gibt, denn nirgends herrscht mehr Uneinigkeit als unter Gleichen.
Falls nun die Atheisten aufbegehren, weil sie mit den diversen Theisten in einen Topf geworfen werden:
Atheisten negieren die Existenz eines Gottes (oder gar mehrerer Götter) und sehr häufig entpuppen sie sich dabei als Antitheisten, die sich intensiver mit den verschiedenen heiligen Schriften auseinandersetzen, als es viele Gläubige tun; nur zu dem Zweck, den dort erwähnten Gott zu
widerlegen! Dies ist wie beim Tauziehen: Eine Partei greift das Seil (Gott) auf und zieht von dannen. Die andere Partei, die angeblich nichts mit dem Seil (Gott) zu tun haben will, greift ebenso begierig danach, nur um den Einen das Seil wegzunehmen. So ziehen und zerren (argumentieren) sie, wie besessen, hin und her und können nicht vom Seil (na. ?) lassen.
Und am Rande dieses bizarren Spektakels stehen die Agnostiker, lachen überheblich und dünken sich fein raus. Durchfall ist auch fein raus.
Knaurs Fremdwörterbuch zeigt unter Agnosie:
1. Medizinisch: Unfähigkeit, das sinnlich Wahrgenommene geistig zu verarbeiten, Seelenblindheit, -taubheit.
2. Philosophisch: Nichtwissen.
Agnostiker: Vertreter des Agnostizismus.
Agnostizismus: Lehre von der Unerkennbarkeit des übersinnlichen Seins. (Notabene: Nur weil etwas gelehrt wird, muss dies nicht auch der Wahrheit entsprechen. Anm. d. Autors.)
Dass wir nicht in der Lage sind, alles was über unsere Sinneswahrnehmung und deren Interpretation(!) hinausgeht zu erkennen, ist unter Wissenschaftlern, die diesen Namen verdienen, Konsens. Der Großteil unseres derzeitigen Wissens sind Theorien, die nicht verifizierbar sind. Wir
glauben diese Theorien so lange, bis sie durch bessere Theorien ersetzt werden. Diese Art des Glaubens, im Sinne einer wissenschaftlichen Vermutung, führt zwar auch des Öfteren zu leidenschaftlichen Diskussionen, welche, je nach charakterlicher Entwicklung der Beteiligten,
auch mal in trotzige Streitereien ausarten können, aber zumeist wird doch anerkannt, dass Wissenschaft nur der derzeitige Stand der Unkenntnis ist.
Wir können unglaublich viel zu den verschiedenen Manifestationen von Energie sagen, zu Materie, zu Strahlung und Magnet- und Gravitationsfeldern. Was Energie aber eigentlich ist und warum sie sich so vielfältig manifestiert und wieder verändert, darauf gibt es, nach wie vor, keine Antwort.
Wir können inzwischen sehr viel zu den Manifestationen des Lebens in pflanzlicher, tierischer und menschlicher Form aussagen, nur was denn Leben eigentlich ist, dazu können nicht einmal die Biologen etwas sagen. Wenn Sie schon einmal die Aufnahmen von männlichen Samenzellen unter
dem Mikroskop gesehen haben, dann ist ihnen vielleicht auch aufgefallen, dass zwischen den hektisch umher wuselnden Spermien auch solche sind, die sich nur noch wenig bewegen und dann gar nicht mehr. Was ist jener ebenso bedeutende, wie unbekannte Faktor, der eine lebende Zelle von
einer toten unterscheidet? Zellwand, Zellflüssigkeit und Zellkern liegen ja zunächst unverändert vor; nur irgendetwas, was wir eher hilflos mit Vitalität, sprich: Leben bezeichnen, das fehlt.
Und auch der Hirnforschung ist es, trotz phantastischer bildgebender Mittel, nicht gelungen, so etwas wie das Bewusstsein auszumachen. Oder wie es ein Hirnforscher einmal sehr treffend formulierte: Wenn
unser Gehirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir wiederum so einfach, dass wir es nicht verstehen würden.
Wir werden wohl weiter mit der großen Unwissenheit bezüglich Energie, Leben und Bewusstsein zurechtkommen müssen und somit auch mit der, von Alter, Krankheit, Tod, Trennung, Verlust und Trauer verbundenen Unsicherheit.
Zu versuchen, die auf diesem Nichtwissen basierenden Ängste durch einen religiösen oder naturwissenschaftlichen Glauben zu übertünchen, ist aber meist nur begrenzt tauglich, weil, wie gesagt, die Glaubensangebote sehr vielfältig sind und so auch immer als Komplettpaket mit dem Zweifel
geliefert werden und weil alle Glaubensangebote einen weiteren gemeinsamen Nachteil haben: Sie beschäftigen sich sehr viel mit dem, was war und was wohl werden wird (oder nicht).
Unser Leben ist aber ein Erleben und dieses findet ausschließlich im gegenwärtigen Moment statt – nicht in einer jetzt gedachten Vergangenheit oder einer ebenso jetzt vorgestellten Zukunft – und auch wirklich niemals im Konjunktiv. Es ist immer das, was es ist, so wie es ist. Auch die sogenannte Vergangenheit, „war“ nur ein gegenwärtiger Moment und die vermeintliche Zukunft „wird“ niemals als eine solche erlebt werden. Wir können dem gegenwärtigen Erlebensprozess nicht entkommen.
Nur hier und jetzt besteht die Möglichkeit, das Mysterium des Lebens zu entschleiern. Dies ist aber nur möglich, wenn man sich von jeglichem Glauben lossagt und stattdessen den Weg der Wahrheitsfindung
beschreitet, was ein geistiger und somit spiritueller Weg ist, auf dem der zweifelbehaftete Glaube nur ein Hindernis darstellt.
Die Freunde der Wahrheit, und nichts anderes bedeutet der Begriff Philosoph, waren alles Menschen, die dazu bereit waren, ergebnisoffen ins Leben einzutauchen, um diesem auf den Grund zu gehen. Im Laufe der Jahrhunderte degenerierte diese offene Bereitschaft, die Wahrheit zu finden, zu einer bloßen Wahrheitssuche und letztlich zur rhetorischen Hirnfi ckerei, welche Begriffsdefinitionen zum fe. erhoben hat. Oder um es mit Wolfgang Pauli zu sagen: Philosophie ist der systematische Missbrauch einer eigens zu diesem Zweck entwickelten Terminologie.
Michel de Montaigne sah das noch anders: „Philosophieren heißt sterben lernen.“ Ein intellektuelles darüber Nachdenken bewahrt einen jedoch davor, in Kontakt mit dem Leben als Ganzes zu kommen.
Diejenigen, die bei ihrer Wahrheitssuche, zumindest teilweise, erfolgreich waren, hatten aber das große Problem, ihre Erfahrungen dann in Worte zu fassen, da sich alle Sprachen ja eben aus jener Unwissenheit heraus entwickelt haben. Somit blieb ihnen meist nichts anderes übrig, als sich
mit, den in ihrer jeweiligen Kultur bestmöglichen, Gleichnissen zu begnügen. Dass diese Gleichnisse dann nicht automatisch übersinnlich verstanden wurden, sondern gemäß den sinnlichen Erfahrungen
interpretiert wurden, liegt auf der Hand. Diese missverstandenen Interpretationen liegen uns heute als Religionen vor, was wiederum geradezu bizarr ist, weil sich das Wort Religion von re-ligio ableitet, also dem Wieder-Verbinden, dem Ende der Getrenntheit von Subjekt und Objekt, der Auflösung der fatalen Ich-Welt-Dualität. Dabei gibt es nichts, was mehr zur Spaltung zwischen Mensch und Natur und zwischen den Menschen untereinander beigetragen hat, als manche Religionen.
Solange wir glauben, können wir nicht wissen, denn das Glauben ist und bleibt eine Vorstellung im doppelten Wortsinn: Einerseits eine Vorstellung im Sinne einer geistigen Inszenierung, wobei der Regisseur ja die Unwissenheit ist. Andererseits eine Vorstellung im Sinne von etwas Unwahrem, dass sich vor die eigentlich erkennbare Wahrheit stellt und so den Zugang zu dieser verhindert.
So wie bei allen Suchtkrankheiten liegt die Lösung niemals in der bloßen Bekämpfung der Symptome, sondern in der Auflösung der Ursachen. Um zu diesen vordringen zu können, bedarf es zunächst der Anerkennung der Sucht, dann dem z.T. schmerzhaften Entzug und zuletzt des riesigen Mutes, sich den Ursachen zuzuwenden.
Ein Glaube ist auch nichts anderes als ein Suchtmittel, denn der Mensch sucht nach einer Linderung jener Schmerzen, die wegen der Verunsicherung durch Alter, Krankheit, Tod Co. ausgelöst werden. Auch hier muss die Sucht (an)erkannt werden, durch Abwendung von unhaltbaren Glaubenssätzen ein Entzug durchlebt und der ungeheure Mut aufgebracht werden, sich dem unbeständigen Leben unmittelbar, also ohne religiöse Vermittlung, zuzuwenden.
Nun gibt es hierbei wieder diejenigen, die eine direkte eigenständige spirituelle Erkenntnis in Frage stellen, weil sie an einer pathologischen Zweifelsucht (chronische Skepsis) leiden.
Durch den Mangel an echter eigener Erfahrung bleiben sie in halbgaren Überzeugungen stecken. Aber jedes neue bessere Argument lässt das bisherige Kartenhaus dieser Überzeugungen zusammenstürzen. Dies führt dann zu einer scheinbaren Verzweiflung. Wobei hier angemerkt werden muss, dass gerade die angeblich nüchternsten Skeptiker eigentlich zutiefst gläubig sind, denn eine Instanz wird von ihnen geradezu gottgleich verehrt: der Zweifel selbst!
Erst wenn auch der Zweifel angezweifelt wird, kann es zur echten Verzweiflung kommen, welche sich nicht selten als eine gute Katharsis erweist.
Den Zweifel aber nur deshalb anzuzweifeln, um damit wieder die eigenen Glaubenssätze zu rechtfertigen, kann getrost als Rückfall bezeichnet werden.
Erst nach dem Zusammenbruch jeglichen Glaubens und der damit einhergehenden Befreiung aus der Zweifelhaft, ist es überhaupt möglich, unvoreingenommen und ergebnisoffen den phänomenologischen
Erkenntnisweg in Richtung Wahrheit zu beschreiten. Dieser schließt die Teilhabe an Glaubensgemeinschaften zum Zwecke der sozialen Fellpflege ja nicht aus. Nur wird die Realität nicht länger auf dem Altar der Gläubigkeit geopfert.
Ich glaube das war's, was ich zum Thema Glauben anmerken wollte.
(B. Golz, Okt. 2024)
kürzlich war ich an einem hiesigen Thread über Glauben und psychische Erkrankung beteiligt, der m. E. inhaltlich leider nicht klar formuliert war. Zumindest kam es zu Missverständnissen und letztendlich wurde das Thema selber irgendwie beendet.
Mit (m)einem geistigen Bruder tauschte ich dann diesbezüglich zwei E-Mails aus und einen Tag später schickte er mir seinen verbalen Abrieb zu diesem Thema. Da er vieles besser formuliert als ich und überdies die Gabe besitzt, ein Fazit aus (s)einem internen Austausch zu bilden, möchte ich es hier unkommentiert jenen zur Lektüre anbieten, die sich nicht mit dem Glauben an XY sondern mit Glauben überhaupt (im existenziellen Kontext) näher beschäftigen wollen.
Ich könnte mir vorstellen, dass es auch für Menschen interessant wäre, die mit ihrem Glauben (oder den Folgen daraus) in irgendeiner Weise hadern. Für überzeugte Gläubige wird der Text eher weniger interessant sein. Sollten jene zudem zu Empfindlichkeit bei (vermeintlicher) Glaubenskritik neigen, empfiehlt sich die Lektüre nicht.
__()__
moo
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Man will's ja nicht glauben!
Es gibt den durchaus wahren Spruch: Glauben heißt, nicht wissen. Denn was ich weiß, das muss ich nicht länger glauben. Da wir aber nun einmal nicht alles wissen können (und auch gar nicht müssen), sind wir in vielen Bereichen darauf angewiesen, dieses Nichtwissen bei Bedarf durch den Glauben vertreten zu lassen. Dies ist völlig unproblematisch, solange uns dieser Unterschied klar bewusst bleibt und wir nicht, von einer plötzlichen Amnesie befallen, den Glauben mit Wissen verwechseln und so zu einer Tatsache adeln.
Es gibt zwei Arten, das Verb glauben zu verwenden.
Einmal umgangssprachlich, im Sinne einer Vermutung: Wo ist denn die Bohrmaschine? Ich glaube, sie liegt im Keller. Wenn sich dann herausstellt, dass sie sich in der Garage befindet, ist das jedoch kein Drama; es war nur eine Vermutung, dass es sich so verhält. Wenn sich diese Vermutung als falsch herausstellt, wird kein fundamentales Weltbild erschüttert. Unterschiedliches Glauben in diesem Sinne hat noch zu keinem Streit oder gar Blutbad geführt.
Ganz anders sieht die Sache beim religiösen Glauben aus. Hier ist das Glauben – vor allem der Glaube an unüberprüfbare Aussagen – eine Conditio sine qua non. Solche unabdingbaren Voraussetzungen sind keineswegs egal und würden, in Frage gestellt, das ganze Glaubensgebäude zum Wanken bringen: Es kann nicht sein, was nicht sein darf! Aber vor allem kann nur sein, was sein muss. Aber woher kommt diese zwanghafte Fixierung?
Nun, es ist klar, dass der Glaube in Form einer belanglosen Vermutung – ob sich die Bohrmaschine im Keller oder der Garage befindet, oder ob nun Timo den Nudelsalat mitbringt oder Sabine – uns nicht existenziell berührt. Ganz anders sieht die Sache aus, wenn wir uns mit Alter, Krankheit, Tod, Trennung, Verlust und Trauer konfrontiert sehen. Diese Lebensfaktoren kann man sicher auch leugnen und glauben unverwundbar und unsterblich zu sein, nur handelt es sich hierbei weniger um einen Glauben, als um einen Wahn, der sich in einem solchen Fall für die betreffende Person aber als ein Glaube manifestieren mag. Religiös gläubige Menschen hingegen leugnen nicht die - milliardenfach empirisch
belegte Tatsache - der Vergänglichkeit allen Seins.
Aber genau aus dieser Tatsache wächst die Unwissenheit, welche die entsprechenden und unbeantwortbaren Fragen aufwirft: Wo komme ich her? Warum bin ich überhaupt da? Wird es nach dem Tod weitergehen und wenn ja: wie? Wieso ist überhaupt alles so, wie es ist?
Die fehlenden Antworten führen zu Ängsten, welche im Trubel des Alltags eher latent vorliegen, im Falle lebensbedrohlicher Situationen – für uns selbst oder diejenigen, die uns am Herzen liegen – akut hervorbrechen.
Es ist kein psychologisches Novum, dass Ungewissheit Ängste erzeugt und wir deshalb alles tun, um diese unangenehmen Gefühlszustände zu beseitigen. Wie können wir aber Ungewissheit beseitigen?
Indem wir eine Gewissheit simulieren und das Nichtwissen mit Wissen simulierendem Glauben überziehen und so der Ungewissheit den Schrecken nehmen.
Dies funktioniert solange gut, bis Andersgläubige an diesem Überzug ziehen und den, Sicherheit versprechenden, Glauben in Frage stellen und dadurch die verborgenen Ängste wieder freilegen.
In abgeschlossenen, homogenen Glaubensgemeinschaften besteht diese Gefahr kaum bis gar nicht. Eventuell auftretende Störfaktoren werden von der großen Masse Gleichdenkender auf die eine oder andere Weise neutralisiert. Schwieriger wird es in einer pluralistischen Gesellschaft, in der über mannigfaltige Medien die unterschiedlichsten Glaubensangebote dargeboten werden. Hier offenbart sich der Zwillingsbruder, der mit jedem Glauben geboren wird: der Zweifel.
Wenn es der Ignoranz nicht mehr möglich ist, andere Erklärungsmodelle für unsere Daseinsproblematik auszublenden, springt ihr die Arroganz hilfreich zur Seite. Natürlich gibt es viele andere Glaubensrichtungen, aber diese sind ja aus einer falschen, verzerrten Ansicht heraus geboren. Der eigene Glaube hingegen ist der einzig wahre, und daher sind alle anderen die Falsch- oder gar Ungläubigen (was sie somit minderwertig macht und zur Bekehrung und Missionierung freigibt und beim Scheitern dieser Bemühungen auch eine Eliminierung rechtfertigt. Siehe menschliche Kulturgeschichte.)
Für Menschen, die Ignoranz und Arroganz nicht als wertvolle Charaktereigenschaften betrachten, wird sich früher oder später der Zweifel durchsetzen, denn es gibt nicht nur sehr viele verschiedene poly-,
mono- und atheistische Glaubensrichtungen, sondern, bei genauerer Betrachtung, etwa so viele Glauben wie es Gläubige gibt, denn nirgends herrscht mehr Uneinigkeit als unter Gleichen.
Falls nun die Atheisten aufbegehren, weil sie mit den diversen Theisten in einen Topf geworfen werden:
Atheisten negieren die Existenz eines Gottes (oder gar mehrerer Götter) und sehr häufig entpuppen sie sich dabei als Antitheisten, die sich intensiver mit den verschiedenen heiligen Schriften auseinandersetzen, als es viele Gläubige tun; nur zu dem Zweck, den dort erwähnten Gott zu
widerlegen! Dies ist wie beim Tauziehen: Eine Partei greift das Seil (Gott) auf und zieht von dannen. Die andere Partei, die angeblich nichts mit dem Seil (Gott) zu tun haben will, greift ebenso begierig danach, nur um den Einen das Seil wegzunehmen. So ziehen und zerren (argumentieren) sie, wie besessen, hin und her und können nicht vom Seil (na. ?) lassen.
Und am Rande dieses bizarren Spektakels stehen die Agnostiker, lachen überheblich und dünken sich fein raus. Durchfall ist auch fein raus.
Knaurs Fremdwörterbuch zeigt unter Agnosie:
1. Medizinisch: Unfähigkeit, das sinnlich Wahrgenommene geistig zu verarbeiten, Seelenblindheit, -taubheit.
2. Philosophisch: Nichtwissen.
Agnostiker: Vertreter des Agnostizismus.
Agnostizismus: Lehre von der Unerkennbarkeit des übersinnlichen Seins. (Notabene: Nur weil etwas gelehrt wird, muss dies nicht auch der Wahrheit entsprechen. Anm. d. Autors.)
Dass wir nicht in der Lage sind, alles was über unsere Sinneswahrnehmung und deren Interpretation(!) hinausgeht zu erkennen, ist unter Wissenschaftlern, die diesen Namen verdienen, Konsens. Der Großteil unseres derzeitigen Wissens sind Theorien, die nicht verifizierbar sind. Wir
glauben diese Theorien so lange, bis sie durch bessere Theorien ersetzt werden. Diese Art des Glaubens, im Sinne einer wissenschaftlichen Vermutung, führt zwar auch des Öfteren zu leidenschaftlichen Diskussionen, welche, je nach charakterlicher Entwicklung der Beteiligten,
auch mal in trotzige Streitereien ausarten können, aber zumeist wird doch anerkannt, dass Wissenschaft nur der derzeitige Stand der Unkenntnis ist.
Wir können unglaublich viel zu den verschiedenen Manifestationen von Energie sagen, zu Materie, zu Strahlung und Magnet- und Gravitationsfeldern. Was Energie aber eigentlich ist und warum sie sich so vielfältig manifestiert und wieder verändert, darauf gibt es, nach wie vor, keine Antwort.
Wir können inzwischen sehr viel zu den Manifestationen des Lebens in pflanzlicher, tierischer und menschlicher Form aussagen, nur was denn Leben eigentlich ist, dazu können nicht einmal die Biologen etwas sagen. Wenn Sie schon einmal die Aufnahmen von männlichen Samenzellen unter
dem Mikroskop gesehen haben, dann ist ihnen vielleicht auch aufgefallen, dass zwischen den hektisch umher wuselnden Spermien auch solche sind, die sich nur noch wenig bewegen und dann gar nicht mehr. Was ist jener ebenso bedeutende, wie unbekannte Faktor, der eine lebende Zelle von
einer toten unterscheidet? Zellwand, Zellflüssigkeit und Zellkern liegen ja zunächst unverändert vor; nur irgendetwas, was wir eher hilflos mit Vitalität, sprich: Leben bezeichnen, das fehlt.
Und auch der Hirnforschung ist es, trotz phantastischer bildgebender Mittel, nicht gelungen, so etwas wie das Bewusstsein auszumachen. Oder wie es ein Hirnforscher einmal sehr treffend formulierte: Wenn
unser Gehirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir wiederum so einfach, dass wir es nicht verstehen würden.
Wir werden wohl weiter mit der großen Unwissenheit bezüglich Energie, Leben und Bewusstsein zurechtkommen müssen und somit auch mit der, von Alter, Krankheit, Tod, Trennung, Verlust und Trauer verbundenen Unsicherheit.
Zu versuchen, die auf diesem Nichtwissen basierenden Ängste durch einen religiösen oder naturwissenschaftlichen Glauben zu übertünchen, ist aber meist nur begrenzt tauglich, weil, wie gesagt, die Glaubensangebote sehr vielfältig sind und so auch immer als Komplettpaket mit dem Zweifel
geliefert werden und weil alle Glaubensangebote einen weiteren gemeinsamen Nachteil haben: Sie beschäftigen sich sehr viel mit dem, was war und was wohl werden wird (oder nicht).
Unser Leben ist aber ein Erleben und dieses findet ausschließlich im gegenwärtigen Moment statt – nicht in einer jetzt gedachten Vergangenheit oder einer ebenso jetzt vorgestellten Zukunft – und auch wirklich niemals im Konjunktiv. Es ist immer das, was es ist, so wie es ist. Auch die sogenannte Vergangenheit, „war“ nur ein gegenwärtiger Moment und die vermeintliche Zukunft „wird“ niemals als eine solche erlebt werden. Wir können dem gegenwärtigen Erlebensprozess nicht entkommen.
Nur hier und jetzt besteht die Möglichkeit, das Mysterium des Lebens zu entschleiern. Dies ist aber nur möglich, wenn man sich von jeglichem Glauben lossagt und stattdessen den Weg der Wahrheitsfindung
beschreitet, was ein geistiger und somit spiritueller Weg ist, auf dem der zweifelbehaftete Glaube nur ein Hindernis darstellt.
Die Freunde der Wahrheit, und nichts anderes bedeutet der Begriff Philosoph, waren alles Menschen, die dazu bereit waren, ergebnisoffen ins Leben einzutauchen, um diesem auf den Grund zu gehen. Im Laufe der Jahrhunderte degenerierte diese offene Bereitschaft, die Wahrheit zu finden, zu einer bloßen Wahrheitssuche und letztlich zur rhetorischen Hirnfi ckerei, welche Begriffsdefinitionen zum fe. erhoben hat. Oder um es mit Wolfgang Pauli zu sagen: Philosophie ist der systematische Missbrauch einer eigens zu diesem Zweck entwickelten Terminologie.
Michel de Montaigne sah das noch anders: „Philosophieren heißt sterben lernen.“ Ein intellektuelles darüber Nachdenken bewahrt einen jedoch davor, in Kontakt mit dem Leben als Ganzes zu kommen.
Diejenigen, die bei ihrer Wahrheitssuche, zumindest teilweise, erfolgreich waren, hatten aber das große Problem, ihre Erfahrungen dann in Worte zu fassen, da sich alle Sprachen ja eben aus jener Unwissenheit heraus entwickelt haben. Somit blieb ihnen meist nichts anderes übrig, als sich
mit, den in ihrer jeweiligen Kultur bestmöglichen, Gleichnissen zu begnügen. Dass diese Gleichnisse dann nicht automatisch übersinnlich verstanden wurden, sondern gemäß den sinnlichen Erfahrungen
interpretiert wurden, liegt auf der Hand. Diese missverstandenen Interpretationen liegen uns heute als Religionen vor, was wiederum geradezu bizarr ist, weil sich das Wort Religion von re-ligio ableitet, also dem Wieder-Verbinden, dem Ende der Getrenntheit von Subjekt und Objekt, der Auflösung der fatalen Ich-Welt-Dualität. Dabei gibt es nichts, was mehr zur Spaltung zwischen Mensch und Natur und zwischen den Menschen untereinander beigetragen hat, als manche Religionen.
Solange wir glauben, können wir nicht wissen, denn das Glauben ist und bleibt eine Vorstellung im doppelten Wortsinn: Einerseits eine Vorstellung im Sinne einer geistigen Inszenierung, wobei der Regisseur ja die Unwissenheit ist. Andererseits eine Vorstellung im Sinne von etwas Unwahrem, dass sich vor die eigentlich erkennbare Wahrheit stellt und so den Zugang zu dieser verhindert.
So wie bei allen Suchtkrankheiten liegt die Lösung niemals in der bloßen Bekämpfung der Symptome, sondern in der Auflösung der Ursachen. Um zu diesen vordringen zu können, bedarf es zunächst der Anerkennung der Sucht, dann dem z.T. schmerzhaften Entzug und zuletzt des riesigen Mutes, sich den Ursachen zuzuwenden.
Ein Glaube ist auch nichts anderes als ein Suchtmittel, denn der Mensch sucht nach einer Linderung jener Schmerzen, die wegen der Verunsicherung durch Alter, Krankheit, Tod Co. ausgelöst werden. Auch hier muss die Sucht (an)erkannt werden, durch Abwendung von unhaltbaren Glaubenssätzen ein Entzug durchlebt und der ungeheure Mut aufgebracht werden, sich dem unbeständigen Leben unmittelbar, also ohne religiöse Vermittlung, zuzuwenden.
Nun gibt es hierbei wieder diejenigen, die eine direkte eigenständige spirituelle Erkenntnis in Frage stellen, weil sie an einer pathologischen Zweifelsucht (chronische Skepsis) leiden.
Durch den Mangel an echter eigener Erfahrung bleiben sie in halbgaren Überzeugungen stecken. Aber jedes neue bessere Argument lässt das bisherige Kartenhaus dieser Überzeugungen zusammenstürzen. Dies führt dann zu einer scheinbaren Verzweiflung. Wobei hier angemerkt werden muss, dass gerade die angeblich nüchternsten Skeptiker eigentlich zutiefst gläubig sind, denn eine Instanz wird von ihnen geradezu gottgleich verehrt: der Zweifel selbst!
Erst wenn auch der Zweifel angezweifelt wird, kann es zur echten Verzweiflung kommen, welche sich nicht selten als eine gute Katharsis erweist.
Den Zweifel aber nur deshalb anzuzweifeln, um damit wieder die eigenen Glaubenssätze zu rechtfertigen, kann getrost als Rückfall bezeichnet werden.
Erst nach dem Zusammenbruch jeglichen Glaubens und der damit einhergehenden Befreiung aus der Zweifelhaft, ist es überhaupt möglich, unvoreingenommen und ergebnisoffen den phänomenologischen
Erkenntnisweg in Richtung Wahrheit zu beschreiten. Dieser schließt die Teilhabe an Glaubensgemeinschaften zum Zwecke der sozialen Fellpflege ja nicht aus. Nur wird die Realität nicht länger auf dem Altar der Gläubigkeit geopfert.
Ich glaube das war's, was ich zum Thema Glauben anmerken wollte.
(B. Golz, Okt. 2024)
10.10.2024 07:03 • • 11.10.2024 x 7 #1
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