@Marlenee
Ein sehr wertvoller Beitrag auch von Dir finde ich!
Es freut mich sehr, dass Du den wirklich nicht leichten Schritt gehen konntest, Dich zu outen gegenüber einigen Leuten. Man muss es ja nicht gleich voll machen und gegenüber jedem. Meine Art war die ganz Extreme. Das kann bei einigen viel zu heftig sein. Es reicht doch völlig, sich ganz ganz langsam in kleinen Schritten heranzutasten. Im Freundeskreis war es bei mir z.B. so, dass einige zwar total positiv reagierten, aber ich merkte doch hier und da, dass sie (besonders anfangs) nicht ganz verstanden, was für ein Ausmaß das bei mir alles hat. Erst, als ich erzählte, dass mein Wiedereingliederungsversuch in der Arbeit an einer anderen Position katastrophal gescheitert ist und es das dann wohl endgültig war mit dem Job, haben alle kapiert, was da los ist.
Das ist aber verständlich, denn wir müssen einfach akzeptieren, dass Menschen, die noch nie selbst irgendwie mit diesen Erkrankungen zu tun hatten, einfach oft nicht ganz nachvollziehen können, wie schlimm das ist oder was das im Leben auslöst. Es ist schade, aber nicht zu ändern. Das dürfte wohl ein Grund dafür sein, warum das Thema immer noch so tabu ist und warum sich viele Betroffene (verständlicherweise) nicht trauen, es zu sagen. Ein Teil der Gesellschaft versteht es einfach nicht oder nur sehr schwer. Mein Schwiegervater z.B. (typischer, fleißiger Arbeitertyp aus einfachsten Verhältnissen, der immer nur der Versorger der Familie war durch Schichtdienst bis ins hohe Alter) versteht glaube ich immer noch nicht, was genau bei mir los ist. Der versteht einfach nicht, wie ein Mensch nur durch seine Psyche so krank werden kann, dass er nicht mehr arbeiten kann. In seiner Welt gab es solche Art Krankheit einfach nicht. Ich muss das akzeptieren und bin ihm wie gesagt auch nicht böse dafür. Er kann da nix dafür.
Es reicht mir aus, wenn Leute es akzeptieren. Sie müssen es nicht alle verstehen, sie müssen es nur akzeptieren. Schade ist eben (und diese Menschen gibt es eben auch und davor haben hier wohl einige auch sehr Angst davor), wenn Leute vorurteilhaft vermuten, dass der Betroffene vielleicht blau macht, keinen Bock mehr auf Arbeiten hat usw. Diese Sichtweisen gab es bei uns in der Arbeit auch immer wieder, es ist das typische Geläster im Büro oder beim Essen über den oder den Kollegen, der wieder mal länger krank ist etc. Dabei weiß keiner, wie es im Kopf des Betroffenen aussieht, was daheim los ist usw. Ich finde das immer sehr traurig. Mein Outing mit dem Anschreiben an fast alle, hat da positiverweise einiges gerade gerückt bei vielen Kollegen und auch Bekannten. Die haben auch offen zugegeben, dass meine Zeilen auch deshalb so wertvoll sind, weil sie auch Ihnen (die gesund sind) sehr die Augen geöffnet haben in Bezug auf die Einschätzung anderer Kollegen/Menschen. Viele halten sich jetzt viel mehr zurück mit Vorurteilen oder eigenen Wertungen. Das war eigentlich auch eine Sache, die mich sehr glücklich gemacht hat, nämlich ein paar Leute dazu zu bringen, ihre subjektive Sichtweise in vielen Dingen zu hinterfragen und lernen, objektiv und neutral an viele Dinge zu gehen ohne Vorurteile.
Also nach wie vor:
Outen ist meist eine sehr positive Sache und macht es in dem Tempo, in dem Ihr es für richtig haltet.
Die meisten werden eh nicht ewig weglaufen können vor dem Thema. Spätestens, wenn man seinen Job nicht mehr machen kann, muss man ja irgendwas sagen und lügen ist definitiv nicht empfehlenswert. Das erzeugt einen inneren Druck ohne Ende und man fühlt sich schlecht.
29.06.2023 12:40 •