EinsamkeitsfähigkeitKann man der Einsamkeit etwas Positives abgewinnen?, frage ich mich. Man kann. Etwas davon ist innere Stärke. Man hält durch. Minuten, Tage, Stunden, Wochen, Monate, manche sogar Jahre oder Jahrzehnte. Wieviel Kraft in diesen Menschen steckt. Wieviel Resilienz, die jeden Tag neu auf die Probe gestellt und bewiesen wird. Wieviel Stärke, das Leben allein zu meistern. Wieviel Mut aufzustehen, dem neuen Morgen und sich selbst ins Gesicht zu blicken, ohne zu jammern, ohne zu klagen, ohne in eine Depression zu versinken, ohne aufzugeben und vollkommen zu resignieren, ob der Leere der vier Wände, die kein Echo zurückgeben, egal wie laut die Einsamkeit ins sie hineinruft.
Wieviel Größe, sich sich selbst zu stellen, ohne ein sicheres Netz, ohne Hände, die einen halten und auffangen, sondern sich selbst Halt zu geben, sich Halt zu sein und es zu schaffen, immer wieder, sich nicht fallen zu lassen. Wieviel Hoffnung, die lebendig bleibt, obgleich es ein Balanceakt ist das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Wieviel Sehnsucht die ausgehalten wird, ohne Erfüllung zu finden. Wieviel Liebe zum Leben, die unzerstörbar sein muss, um es nicht freiwillig zu verlassen, weil die Liebe unteilbar ist, ob der Verlassenheit von allem und jedem. Wieviel Fähigkeit in Resonanz zu gehen mit der Schönheit der Dinge, die das Leben schenkt, als tröstende Verbindung, wenn menschliche Verbundenheit fehlt. Wieviel Güte und Mitgefühl, sich dennoch um andere zu sorgen und zu kümmern, auch wenn sich keiner um einen selbst kümmert, außer man selbst. Wieviel Schöpfertum in der Einsamkeit steckt, sei es in Musik, Wort, Gedanke und Bild, das nur dort gefunden und Gestalt annehmen kann um in die Welt zu gehen. Es ist beeindruckend wieviel positive Energie in der Einsamkeit zu finden ist. Das ist Einsamkeitsfähigkeit, wie es der Philosoph Odo von Marquard nennt.
„Krankhaft ist nicht Einsamkeit. Problematisch ist vielmehr die Schwächung der Kraft zur Einsamkeit“, schreibt Marquard. Wenn Einsamkeit unvermeidlich ist, sollten wir sie gestalten, empfiehlt er. Das klingt weise, aber Weisheit stellt sich nicht ein, wenn wir sie brauchen, wir werden weise mit der Zeit und indem wir unsere Haltung den Dingen gegenüber ändern, indem wir uns dafür entscheiden und bereit sind dies auch tun. Die Bereitschaft mit der Einsamkeit umzugehen ist eine Herausforderung. Gerade für jene, die sie nur schwer aushalten können. Der innere Widerstand ist groß. Verständlich, denn Einsamkeit ist kein Vergnügen.
Die Einsamkeit zu leben will geübt sein.
Sich selbst zu begegnen, die innere und äußere Stille auszuhalten, sich mit der eigenen Wahrheit zu konfrontieren, sich nicht ablenken zu können, die Langeweile leerer Stunden zu ertragen, die eigenen Ängste auszuhalten, ist eine schwere Übung. Aber in ihr liegt auch die Chance sich mit sich selbst zu verbinden, mit sich selbst in Beziehung zu treten und was uns von uns selbst trennt zu überwinden - das bedeutet Einsamkeitsfähigkeit lernen.
Einsamkeit ist, wenn wir sie nicht bewerten, eine sehr besondere Erfahrung. Am Boden dieser Erfahrung liegt eine tiefe Wahrheit: Einsamkeit ist eine Grundgegebenheit menschlichen Seins.
„Jeder ist allein, kein Mensch kennt den anderen ... , schreibt Hermann Hesse, ein Weiser, der diese tiefe Wahrheit erkannt hat.
Sicher wir haben Beziehungen, aber immer sind wir auch allein. Einzelne, Vereinzelte, Einsame. Einsam können wir auch unter Menschen sein. Ich kenne es gut, dieses Gefühl des Einsam-seins im eigenen Mikrokosmos, in meiner inneren Welt, die keiner so fühlt wie ich, die, ganz gleich wie nahe der andere mir ist, unteilbar ist. Das eigene Innere, der tiefe Grund der Seele, bleibt dem anderen soweit immer fremd als er uns nicht fühlen kann. Kein Mensch fühlt, was wir fühlen. Vermag er sich auch noch so sehr in uns einfühlen – etwas lässt uns gefühlt allein. Und auch wir selbst können uns fremd sein, irgendwo an einem inneren Ort, an dem unsere tiefsten Tiefen nicht ins Bewusstsein dringen.
Wir sind immer auch Einzelne, bis zum Tode, bis zum Moment des Abschieds vom Leben. Den müssen wir alleine nehmen, auch wenn uns ein geliebter Mensch dabei die Hände hält. Diese sterblichkeitsbedingte Einsamkeit verlangt geradezu nach Einsamkeitsfähigkeit.
„Nicht die Einsamkeit, sondern die Unfähigkeit zur Einsamkeit ist das eigentliche Problem“, schreibt Marquard weiter. Viele von uns haben die Fähigkeit zum Alleinsein nicht erlernt oder verloren. Nun ist Alleinsein nicht einsam sein, aber es kann dahinführen, wenn es zu lange anhält. Je weniger wir das Alleinsein geübt haben, je mehr wir andere brauchen um uns lebendig zu fühlen, je mehr wir anderer bedürfen um das zu erhalten, was uns in uns selbst fehlt, je mehr Anerkennung, Zuwendung, Wertschätzung und Bestätigung durch andere wir brauchen, desto schlechter gelingt das Alleinsein und desto bedrohlicher wird das Gefühl der Einsamkeit empfunden.
Das Ich braucht das Du. Das steht außer Frage, aber das Ich braucht auch sich SELBST.
Wir brauchen andere, um uns zu erkennen und um uns zu begreifen. Sie sind uns Lehrer, Partner, Spiegel. Über und mit anderen lernen wir viel über uns selbst. Aber wir brauchen auch die Begegnung mit uns selbst. Wir brauchen die ungestörte Selbstreflexion, die uns uns selbst näherbringt, je öfter wir sie üben. Die Übung der Einsamkeit als Eins-sein. Einsseins mit uns selbst und dann mit uns selbst einig sein, einverstanden sein mit uns selbst. Dieses Eins-sein ist eine notwendige Erfahrung. Ihre Essenz ist das eigene Sein in seiner Fülle und Ganzheit.
Zu uns selbst kommen, bei uns selbst bleiben und nicht vor uns selbst wegrennen, sondern uns selbst begegnen, das ist das Geschenk das in der Einsamkeit liegt, wenn wir es annehmen.
Einsamkeit hat den großen Vorteil, dass man die Flucht vor sich selbst einstellt“, schreibt Marcel Proust. Stellen wir die Flucht ein, hören wir auf Einsamkeit als schmerzliche Last zu ertragen, in der Hoffnung sie möge schnell vorübergehen. Nicht abwartend auf ihr baldiges Ende, kann es gelingen nicht nur nicht mehr zu fliehen, sondern die Lust daran zu erkennen und die Freiheit, die sie in sich trägt, zu (er)leben. Das ist für mich Einsamkeitskompetenz. Um das einsame Leben zu bestehen, brauchen wir die Kompetenz der Einsamkeitsfähigkeit.
Die unvermeidliche Einsamkeit kann jedem von uns begegnen.
Es gibt sie, weil wir sterben müssen und es gibt sie, weil das Leben sie als Erfahrung in sich trägt.
Leben ist auch einsam sein. Leben ist alles.
Nicht alles im Leben können wir frei wählen, aber wir können frei wählen, wie wir mit allem umgehen wollen. Warum also, wenn das Leben uns gerade Einsamkeit beschwert, nicht antworten mit: Es ist okay. Ich bin bereit sie anzunehmen. Nicht als Mangelwesen, sondern als bewusster Mensch bin ich offen und bereit, mit meiner Einsamkeit umgehen zu lernen. Ich bin bereit sie auch positiv zu erfahren. Ich bin bereit aus der Bodenlosigkeit, die sie mich fühlen macht, zur Bodenhaftung zu gelangen. Verwurzelt werden will ich, in mir selbst. Selbstverwurzelung anstreben, indem wir Ja sagen zur Einsamkeit und unsere Kommunikationsansprüche an das Außen reduzieren. Indem wir die Herausforderung annehmen, nach Innen zu gehen, die Kommunikation mit uns selbst aufnehmen und daraus eine Lebenskunst machen. Zur Lebenskunst gehört auch: allein nicht einsam zu sein.
Frieden schließen mit der Einsamkeit, ist das möglich? Meines Erachtes ist es möglich, denn da ist immer etwas, was uns in Verbindung hält mit dem Leben. Selbst wenn wir einsam sind, sind wir auf einer höheren Ebene in Verbindung.
Die Einsamkeit ist in Wahrheit ein Ort, an dem man sich mit dem Gefühl, menschlich zu sein, verbinden kann.”
Fritz Perls
Angelika Wende
www.wende-praxis.de