KHALIL GIBRAN - VON DER FREIHEIT
Freiheit
Und ein Redner sagte: Sprich uns von der Freiheit.
Und er antwortete:
Am Stadttor und an eurem Herd habe ich gesehen, wie ihr euch niederwerft
und eure Freiheit anbetet, wie Skla., die sich vor einem Tyrannen erniedrigen
und ihn preisen, obwohl er sie erschlägt.
Ja, im Tempelhain und im Schatten der Zitadelle
habe ich die Freiesten unter euch
ihre Freiheit wie ein Joch und eine Fessel tragen sehen.
Und mir blutete das Herz, denn ihr könnt nur frei sein,
wenn euch euer Freiheitsdrang selbst zügelt,
und wenn ihr aufhört, von Freiheit als Ziel und Erfüllung zu reden.
Nicht, wenn eure Tage ohne Sorge und eure Nächte frei von Not und Kummer sind,
werdet ihr wirklich frei sein, sondern erst dann,
wenn Sorge, Not und Kummer euer Leben umklammern,
und ihr euch dennoch frei und ungebunden über sie erhebt.
Und wie wollt ihr euch über eure Tage und Nächte erheben,
wenn ihr nicht die Ketten sprengt,
die ihr im ersten Unverstand eurem jetzigen Leben angelegt habt?
In Wahrheit ist das, was ihr Freiheit nennt, die stärkste dieser Ketten,
wenn auch ihre Glieder in der Sonne glitzern und euch blenden.
Und was sonst als Teile eures Ichs wollt ihr verwerfen,
um frei zu werden?
Wenn es ein ungerechtes Gesetz ist, das ihr abschaffen wollt,
dann habt ihr es mit eigener Hand auf die Stirn geschrieben.
Ihr könnt es nicht tilgen, indem ihr eure Gesetzbücher verbrennt,
oder es von den Stirnen eurer Richter spült,
selbst wenn ihr das Meer auf sie schüttet.
Und ist es ein Despot, den ihr vom Thron stürzen wollt,
dann zertrümmert zuerst seinen Thron, den ihr in euch errichtet habt.
Denn wie kann ein Tyrann die Freien und Stolzen regieren,
so sie nicht ihre eigene Freiheit tyrannisieren und sich ihres eigenen Stolzes schämen?
Und wollt ihr einen Kummer vertreiben,
dann eher den, der von euch kommt als den euch auferlegten.
Und ist es eine Furcht, die ihr verbannen wollt,
dann eher jene, die in eurem Herzen ist und nicht in der Hand des Gefürchteten.
Wahrlich, all dies umschlingt sich ständig in euch,
das Ersehnte und das Gefürchtete, das Abstoßende und das hoch Geschätzte,
das was ihr erstreben und das, was ihr meiden wollt.
All das regt sich in euch wie Licht und Schatten,
die wie ein Paar einander verbunden sind.
Und wenn der Schatten weicht,
dann wird das Restlicht Schatten eines anderen Lichts.
Und so wird eure Freiheit ohne Banden selbst zur Fessel einer größeren Freiheit.
19.10.2021 16:03 •
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