Pfeil rechts

A
Die Sonne scheint, es weht jedoch der typisch nordische Wind. Dass es nicht regnet, sollte mich eigentlich entzücken, dennoch regt sich keinerlei Freude über die Trockenheit und das Licht. Bei der Fahrt zur Arbeit dreht sich mir der Magen um. Sie ist wieder da. Ich horche in mich hinein und tausende von analogen Gedanken durchströmen in einer Sekunde die Nervenbahnen meines Geistes. Das Produkt gefällt mir nicht. Doch im Augenblick des Geschehens kann ich es nicht ändern. Ich kann nicht. Sie ist wieder da. Der Zyklus beginnt von vorne. Als ich in der Uni ankomme, fällt ein kurzer Blick von mir vorne an den Haupteingang, wo sich gerade ein junges Paar küsst. Er könnte Sportstudent sein, denke ich mir. Ich sehe ihren entzückten Blick, wie sie zu ihm hinauf sieht. Sie ist wieder da. Ich schließe mein Fahrrad ab und mache mich auf dem Weg in das Gebäude. Im Vorbeizischen sehe ich, wie ein paar ältere Dozenten auf der Bank genüsslich Pfeiffen rauchen. Ich weiß nicht, worüber sie gerade sprechen. Wahrscheinlich über irgendwelche neuen Strategien, Seminare und Vorlesungen aufzufüllen. Im Laufe des Semesters werden alle davon erwartungsgemäß leerer. Ich laufe an Rauchern vorbei, wo sich aufgrund der vorübergehenden Windstille eine kleine Dunstwolke gebildet hat. Kleine Grüppchen von Menschen haben sich vor dem Eingang versammelt und genießen den Qualm. Ich spüre sie. Sie ist wieder da. Ich wünschte, es wäre nicht so. Als ich reingehe, wird es wärmer, stickiger, pulsierender. Drinnen richtet sich mein Blick nach links, zum kulinarischen Aushang, auf dem die Speisen der Mensa für eine ganze Woche samt Beilagen aufgeführt sind. Kartoffel-Gemüsegratin, Bami Goreng, Farfalle, Bio-Vollkornspaghetti mit Gemüsesauce toskanisch. Auf der Ausgabe B lese ich: Italienischer Gemüseeintopf,Hähnchenschnitzel mit Zitronen-Pfeffersauce, Seelachsfilet, gebraten, mit Dillsauce. Nach dem Morgenseminar, dem Arztbesuch aufgrund einer Nagelbettentzündung und der Temponade unter der Haut sowie dem leichten Blutverlust möchte ich meinem Körper, trotz all der Umstände, etwas Gutes tun und meiner biologischen Uhr, in dem Fall dem Hunger, folgen. Ich drehe mich zur Seite und sehe einen jungen Mann mit kurz rasierten Haaren, der ebenfalls auf die Tafel der Mensa starrt. Ich drehe mich wieder zur Tafel, wobei ich denke, dass der Mann mir bekannt vorkommt. Beim erneuten Blick auf ihn, muss ich jedoch feststellen, dass er mich lediglich an jemanden erinnerte. Er erinnerte mich an meine menschliche Dreier-Konstellation, die es vermutlich nie so richtig gegeben hatte, was ich mir jedoch vielleicht gewünscht habe. Mitlerweile habe ich weder Kontakt zu ihm noch zu ihr. Britta hatte es geschafft, mit mir zu schlafen und mit ihm zu *beep*. Dann war alles vorbei. Für alle. Und sie war die Gewinnerin unseres schwachen Moments. Sie bekam alles. Ihre Partnerschaft hatte nicht gelitten und sie bekam die Vorzüge von mir und Jan. Doch sie und er sind Geschichte. Frau müsste man heutzutage sein. Dass ich nicht lache. Nein, ich lache nicht. Es fühlt sich anders an. Eine unsichtbare Macht ergreift ihre Klauen über mein Haupt, sie zieht sich zusammen, schnürt mir den Hals zu. Ich kann nicht atmen! Immer wieder fällt mir auf, dass ich zwischen den Schritten und den kurzen Pausen, die ich irgendwo im Gebäude einlege, immer wieder innere Monologe mit dem Herr vom Himmel führe. Der Herr vom Himmel. Ich denke mir, Herr, warum hast du mich auserwählt? Warum ich? Es gäbe doch gute Gründe, mich zu verschonen?! Es scheint so, als ob ich selbst nicht wirklich dran glauben mag, dass Gott seine Gnade über mich walten lassen möchte. Stimme ich seinem Strafgericht zu? Sie ist wieder da. Ich kann nicht. Ich muss weiter. Ich muss weiter! Mit langsamen Schritten und die pulsierende Massen musternd bewege ich mich nach oben in die Mensa zur Ausgabe A. Es ist gleich Mittag und alle strömen sie, um noch etwas zu ergattern. Es ist so voll, dass die Schlange bis fast nach unten bis zur Treppe reicht. Ich sehe vor mir eine Junge Frau, vielleicht zwei oder drei Jahre jünger als ich, die ebenfalls in der Schlange steht. Sie ist ein blonder Engel. Ich mustere sie. Ein schöner Körper. Blaue Augen. Ob sie ein wirklicher Engel ist, mag ich nicht zu unterstellen. Doch allein vom Äußeren könnte sie Ballerina sein und den weißen Schwan spielen. Sollte ich sie ansprechen, so würde ich für einen kurzen Moment, eine nicht all zu lange Sequenz, in ihr Leben treten und sie in das meine. Von nun an würde dieser blonder Engel einen schwarzen Schwan in meinem Leben spielen, ein wunderschönes Wesen, das die Normalität umwälzt, zerrütet, deformiert und aushüllt. Ich ertrage das nicht mehr! Dennoch drängeln sich weitere Fragen ihrer Existenz an mich auf. Was bestellt sie wohl?, denke ich mir. Sollte ich sie ansprechen? Der Hals schnürt sich mir zu. Ich kann nicht. Ich ertrage das nicht. Sie ist wieder da. Ich beobachte die Frau weiter, sehe wie sie sich umschaut, auf der Suche nach jemanden, den sie womöglich kennt. Ihre Rundblicke sind heute nicht von Erfolg gekrönt. Die Schlange geht schneller voran als ich vermutet habe. Es wird wärmer, pulsierender. Gerüchte von diversen Gerichten steigen in die Nasen der Wartenden. Ich bestelle. Prompt kommt das Essen. Umständlich krame ich nach meiner Geldbörse, um zu bezahlen, doch der Verband an der linken Hand und die langsam nachlassende Lokal-Betäubung lassen mich nicht schneller werden. Ich mache mich auf dem Weg zu einem leeren Tisch, doch nirgends kann ich einen erblicken. Cliquen, Zweier-Konstellationen links, Cliquen-Zweier-Konstellationen rechts. Geradeaus zeichnet sich das gleiche Bild ab und irgendwo vereinzelnd sitzen ein paar Dozenten und schlürfen ihren gebratenen Fisch. Ich könnte kotzen. Sie ist wieder da. Eine große resignierte Traurigkeit legt sich mir aufs Gemüt. Ich kann einfach nicht. Aber ich muss weiter. Ich muss! In langsamen Bewegungen suche ich einen Tisch, wo etwas weniger Menschen sitzen. Nach einigen Gängen fällt mir ein großer Tisch auf, an dem nur zwei Leute gegenüber sitzen. Ein junger Mann und eine junge Frau. Die Entscheidung ist gefallen. Ich setze mich an diesen Tisch. Zumal es wirklich unwahrscheinlich ist, dass ich jemals in der Mensa um diese Uhrzeit noch einen freien Tisch finde, ganz zu schweigen davon, dass dieser nicht lange frei bleiben würde. Resigniert setze ich mich an den Tisch, außen links. Als ich mit meinem Kartoffel-Gemüsegratin-Mahl beginne, kommt eine Horde von Naturwissenschaftlern, wahrscheinlich noch im Bachelor-Studium. Sie setzen sich an den selben Tisch wie unser drei. Sie füllen jeden Platz aus und ich räume meine Sachen von dem anderen Stuhl, damit sich auch wirklich alle setzen können. Der junge Mann, für den ich den Platz bereitete, bedankt sich freundlich. Es sieht so aus, als ob sie sich alle untereinander kennen. Auch die anderen zwei vorher am Tisch. Dabei denke ich mir, du wolltest doch nur in ruhe essen und jetzt sitzt du mitten in einer Clique. Ich hacke in meinem Teller herum. Nehme einen Schluck Wasser. Die zwei Mädels gegenüber mir quaken und lachen dumm: Hahahahauuu...Hahuuu! über irgendeine Aussage ihres Bekannten aus der Runde. Ein anderer Bekannter aus der Mittagstischrunde erwidert daraufhin Hey, ist nicht witzig. er hat Probleme. Ein noch dämlicheres Grinsen vollzieht sich auf den wohl geformten Lippen der zwei Mathestudentinnen. Ich hasse die meisten Naturwissenschaftler. Genau aus dem Grund dieses Grinsens. Wie gut, dass es eigentlich einen getrennten Campus gibt, so dass die Naturfotzis unter sich sind. Diesmal haben sie sich jedoch irgendwie hierher verirrt. Die Orientierung klappt trotz dem Abi nicht so sehr. Ach, was solls. Leben und leben lassen. Ich stocher weiter in meinem Teller rum, während meine Blicke in die andere Blickwinkel wandern. Ein Gefühl der Enge umhüllt mich. Gleichzeitig fühle ich mich relativ ruhig an. Nicht apathisch, ich nehme wahr, jedoch nicht wie sonst. Ich habe etwas verloren. Ich fühle mich gleichzeitig leichter und schwerer an. mehr schwerer als leichter. Sie ist wieder da. Im Blickwinkel links von mir entdecke ich eine junge Frau um Anfang Zwanzig. Allein. Ich staune. Sie ist wie ich. Sie stochert ebenso wie ich in ihrem Teller herum. Besser gesagt auf den Tortellinis, die darauf liegen. Sie sieht traurig aus sowie leichter und schwerer zugleich. Sie schaut sich immer wieder um. So als würde sie sich fragen: Hey, was zum Teufel ist blos los mit euch? Sehr ihr mich denn nicht? Sehr ihr nicht das Leid, das ich in mir trage? ... .... Nein, ihr seht mich nicht. Ihr seht mich nicht. Ich mustere sie und wie sie ißt. Eine Art Faszination erfasst mich und fühle mich gezwungen, aufzustehen, zu ihr rüber zu gehen und zu sagen: Hey, ich sehe dich. Ich sehe dich. Ich weiß, es klingt verrückt und du hälst mich vielleicht für seltsam, aber ich würde dich gern kennenlernen. Kurz nach diesem Trautraum von mir wird ihr Teller leer. Ich sehe, dass sie aufgegessen hat und blicke auf meinen Teller. Ich habe noch nicht einmal die Hälfte meines Gemüses gespeist. Ich denke, zu viel geträumt. Von jemandem. Von jemandem, den ich nicht kenne oder vielleicht nie kennen werde. Die junge Frau steht auf und packt ihre Sachen. Schnell. Sie flieht. Vor sich selbst, von den anderen? Ich hatte den Gedanken, ihr nachzugehen. Doch ich war zu langsam, sie war so schnell verschwunden, dass ich nicht mal bis drei zählen konnte. Ich beschloss aufzustehen und zwar so, dass ich nicht den Eindruck bei den Speisenden wecke, dass ich gerade jemanden stalke. Die hohen Decken und die Weite des Mensaraumes würden jedoch eh nicht mehr als ein paar Meter eines dummen Spruches zulassen. Schon nach fünf Metern würde der Spruch aufgrund des Lärmpegels nicht mehr zu hören sein. Ich laufe weiter, gebe mein Tablett ab und schaue mich um. Doch dieses einsame, hübsche Mädchen mit der schmalen Oberlippe und ihren vorwurfsvollen, verletzten Blicken, war bereits weg. Sie ist wieder da. Ich spüre sie. Wie sie sich an mich legt. Mit mir spielt, mich lähmt, mich fesselt, mich fokussiert, mich zerdrückt, zerreibt. Sie ist wieder da und sie spielt. Sie Spielt ihr Spiel mit mir. Ein Spiel, das ich zu verlieren drohe. Sie ist wieder da. Die Ohnmacht. Kontrollverlust. Illusionverlust. Ist das meine Realität? Zwischenstationen, in denen ich Menschen begegne, Sympathien und Antipathien auslöse. Manchmal löse ich auch gar nichts aus. Sowie bei dieser unbekannten mit dem Teller. Sie war so vertieft in ihre Welt, dass sie nicht gesehen hat, dass ich sie sehe. Ich fühle mich allein. Allein zwischen Menschen. Und nichts, was ich tue, funktioniert. Noch vor drei Jahren habe ich regelmässig Frauen gehabt. Nach meiner letzten Beziehung, inzwischen seit drei Jahren, geht ein Versuch nach dem nächsten ins Leere. Ohnmacht ist eines der schlimmsten humanistischen Facetten, die mich je ereilt haben. Ich weiß nicht weiter. Ich muss weiter. Doch ich weiß nicht weiter.

Appex

07.05.2014 21:05 • 11.05.2014 #1


M
WOW! Einfach nur toll geschrieben, auch wenn der Inhalt traurig ist... Einfach genial!

Lg

08.05.2014 10:48 • #2


A
jo, dankeschön ich bin zwar immer noch solo, aber nicht zu bemitleiden.. hab ein schwieriges leben, aber kein schlechtes.. in diesen 3 jahren ist jedoch durchaus mehr passiert, als ich in dem text nieder geschrieben habe.. ich wurde von 3 frauen angenommen, die ich jedoch nicht angenommen habe, somit ist nie eine beziehung entstanden. ich bin vielleicht zu anspruchsvoll, das macht mich zum einsamen menschen

11.05.2014 22:38 • #3