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Kuebelkopf
Die Küchenuhr
aus der Sicht der Küchenuhr
(bearbeitete Version, Original: Wolfgang Borchert 'Die Küchenuhr')

Ich beobachtete die funkelnden Sterne im wolkenlosen Himmel, die sich glitzernd im Küchenfenster spiegelten. Der Mond hob sich leuchtend von der schwarzen Maße ab und erleuchtete mit seinem Licht die dunklen Straßen und Gassen, die wie dunkle Wege vor dem Fenster lagen. Nachts war es am schönsten, da hörte man mein durchdringendes, liebkosendes Ticken am besten. Zusammen mit dem Rhythmus der Nacht bildete es eine Melodie, die die ganze Wohnung zu erfüllen schien. Tick, tack, tick, tack, tick...
Auch wenn ich nur eine Uhr war, so wusste ich doch, wie sich Wohlbefinden anfühlt. Und gerade fühlte ich mich sehr wohl.
So hing ich meinen Gedanken nach und lauschte meinen eigenen monotonen Schlägen, die unaufhörlich tickten. Meine Batterie war voll, und so gab ich meine Schläge mit einer Kraft ab, die jede Mücke beeindruckt hätten. Doch für Mücken war es noch zu kalt und die dummen Fliegen flogen nur immer gegen mein Glas, anstatt sich neben mich zu setzen und meinen geheimnisvollen Klängen zu lauschen. Sie verbargen mehr, als ein Mensch auf den ersten Blick erahnen konnte. Tagein, tagaus erzählte ich all‘ die Lebensgeschichten, die ich einst gesehen hatte. Alles fing an mit der Geburt, führte sich mit der Entwicklung fort und endete mit dem Sterben. Ich hatte viele Generationen an mir vorbeiziehen sehen und konnte mich doch an jeden wichtigen Zeitpunkt im Leben jedes Menschen erinnern.
Plötzlich wurde es still, seltsam still. Eine Nacht ist niemals still, es ist immer irgendetwas im Gange. Doch nun war es still. Ganz still. Die Ruhe vor dem Sturm. Und dann hörte ich es: eine Detonation, ganz in meiner Nähe. Der Krieg ging weiter, unsere Stadt wurde bombardiert. Es war mitten in der Nacht, zwei Uhr in der Früh. Immer mehr Lärm und Krach der Bomben war zu hören. Ich hörte das Wimmern und Schreien von Kindern, die Explosion eines Hauses und das wütende Fauchen eines sich nährenden Feuers. Ich spürte die Hitze der Flammen, die Druckwellen der Explosionen und die kühle Nachtluft auf meinem Gehäuse. Sie griffen unser Viertel an.
Da geschah es: Wir wurden getroffen! Innerhalb von Sekunden stand das Haus in Flammen. Die Druckwelle der Detonation riss mich von der Wand, ließ mein Glas in Scherben zerspringen und brachte mein unaufhörliches Ticken zum Stillstand; Punkt halb drei. Dort lag ich nun und sah das Elend über mir zusammenbrechen. Hätte ich die Möglichkeit gehabt, ich hätte Tränen vergossen und mich in die Arme einer jeden rettenden Seele geworfen. Plötzlich stürzte das Haus über mir zusammen, die Wohnung zerbarst in Einzelteile. Ich wurde von Schutt und Asche überhäuft, ein Balken begrub mich unter seiner schweren Last.
Wie lang ich dort so lag und den Schreien und gequälten Lauten der Überlebenden lauschte, wusste ich nicht. Mir kam es wie Tage vor...
Auf einmal vernahm ich entfernte Schritte. Sie wurden lauter, verebbten wieder und kamen dann zögerlich zurück. Ich wollte mich bemerkbar machen, brachte jedoch nicht einmal ein leises Ticken zu Stande. In mir keimte die Hoffnung, dass mich irgendjemand finden, in den Arm nehmen und davon tragen würde. Weg von dem Leid, dass über mich und meine Bewohner hereingebrochen war. Weg von der unerträglichen Gewissheit, dass mein unendliches Geräusch verklungen war und nie wiederkehren würde.
Licht blendete mich, der schwere Balken wurde von mir gehoben und ich sah in einer Staubwolke das verstaubte Gesicht des Mannes auftauchen, der jeden Tag um Punkt halb drei Uhr nachts von der Arbeit heimkam und sich zusammen mit seiner Mutter an den Esstisch setzte und eine warme Mahlzeit genoss. Ihm war der Schmerz anzusehen: sein Gesicht - aschfahl, seine Lippen - ein harter Strich, seine Augen - voller Tränen, seine Fäuste - geballt. Ich sah ehrfürchtig zu ihm auf. Nun hatte er mich entdeckt und hob mich sachte auf. Seine Augen schwammen als er mich an sich presste und den Trümmerhaufen, der einst eine Wohnung war, hinter sich ließ und den Weg Richtung Park einschlug.
Schlurfend drehte er eine Runde um den Park, bevor er sich auf eine Bank niederließ und mich auf seinen Schoß legte. Eine junge Frau mit Kinderwagen und ein Mann saßen rechts und links neben ihm, doch er nahm keine Notiz von ihnen. Er starrte mich an, berührte zaghaft meine stehengebliebenen Zeiger. Die zeigten noch immer dieselbe Uhrzeit wie bei der Explosion unserer Wohnung: Punkt halb drei.
Mit seinen Fingerspitzen fuhr er meine zart blauen Ziffern nach.
Die Personen neben ihm begannen ihn zu betrachten, schienen seine Gegenwart als unangenehm zu empfinden. Er zeigte auf mich und begann zu sprechen. Sein Gesicht schien dabei immer mehr zu altern, er sah nicht mehr so aus als würde er noch in seinen jungen Jahren leben,
„Das war unsere Küchenuhr“, sagte er und sah sie alle der Reihe nach an, die auf der Bank in der Sonne saßen.
„Ja, ich habe sie noch gefunden. Sie ist übrig geblieben. Sie hat keinen Wert, das weiß ich auch. Und sie ist auch nicht so besonders schön. Sie ist nur wie ein Teller, so mit weißem Lack. Aber die blauen Zahlen sehen doch ganz hübsch aus, finde ich. Die Zeiger sind natürlich nur aus Blech. Und nun gehen sie auch nicht mehr. Nein. Innerlich ist sie kaputt, das steht fest. Aber sie sieht noch aus wie immer. Auch wenn sie jetzt nicht mehr geht.“
Seine Worte berühren und verärgern mich zugleich. Ich nicht nur eine Küchenuhr, nein. Eine Küchenuhr kann jeder sein, der die Zahlen von eins bis sechzig aufzählen kann. Ich bin ein Wegbegleiter. Ich habe mit meinen Bewohnern zusammen gelacht und geweint, mich gefreut und mich getäuscht. Ging die Zeit nicht schnell genug herum? Hat vielleicht auch bald dein letztes Stündchen geschlagen? Sollte dem so sein, ich bin dabei. Ich bin immer dabei. Trauer, Hass, Wut, Liebe, Freundschaft...
Die auf der Bank in der Sonne saßen, sahen ihn nicht an. Einer sah auf seine Schuhe und die Frau sah in ihren Kinderwagen. Dann sagte jemand:
„Sie haben wohl alles verloren?“
„Ja. Ja“, sagte er freudig, „denken Sie, aber auch alles. Nur sie hier, sie ist übrig.“
„Aber sie geht doch nicht mehr“, sagte die Frau.
„Nein, nein, das nicht. Kaputt ist sie, das weiß ich wohl. Aber sonst ist sie doch noch ganz wie immer: weiß und blau. Und was das Schönste ist“, fuhr er aufgeregt vor, „das habe ich Ihnen ja noch überhaupt nicht erzählt. Das Schönste kommt nämlich noch: Denken Sie mal, sie ist um halb drei stehen geblieben. Ausgerechnet um halb drei, denken Sie mal.“
„Dann wurde Ihr Haus sicher um halb drei getroffen“, sagte der Mann und schob wichtig die Unterlippe vor.
„Das habe ich schon oft gehört. Wenn die Bombe runtergeht, bleiben die Uhren stehen. Das kommt von dem Druck.“
Deshalb waren also meine Zeiger ausgefallen. Die Bombe war schuld gewesen! Unwillkürlich erinnerte ich mich an die wütende Feuerbrunst und die Feuerwand, der ich ins Auge hatte sehen müssen. Plötzlich war ich froh, dass nur meine Zeiger kaputt gegangen waren und mein Glas zersplittert ist. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass ich auch als Schrott auf dem Schrottplatz hätte enden können. Abermals wurde ich in die Höhe gehoben und von allen Seiten kritisch bedacht. Der leere Blick des Sohnes stach mir in mein nicht existierendes Herz. Er sah so fertig mit der Welt aus. Ich vermochte gar nicht daran zu denken, was ihm gerade alles durch den Kopf ging.
„Nein, lieber Herr, nein, da irren Sie sich. Das hat mit den Bomben nichts zu tun. Sie müssen nicht immer von den Bomben reden. Nein. Um halb drei war ganz etwas anderes, das wissen Sie nur nicht. Das ist nämlich der Witz, dass sie gerade um halb drei stehen geblieben ist. Und nicht um Viertel nach vier oder um sieben. Um halb drei kam ich nämlich wieder nach Hause. Nachts, meine ich. Fast immer um halb drei. Das ist ja gerade der Witz.“
Nun begann er, das allnächtliche Geschehen in unserem Haus zu beschreiben. Der Sohn am stets um halb drei nach Hause. Wach geworden von den leisen Schritten, die sich nachts durch das dunkle Haus schlichen, erschien die Mutter in der Küchentür und sah ihren Sohn an. „So spät wieder“ war der erste und einzige Satz, den sie des Nachts verlauten ließ. Gekleidet in eine Wolljacke und umhüllt mit einem roten Schal stand sie stets barfuß in der Küche. Ich habe immer von oben auf sie herabgesehen und mich gewundert, warum sie nie Schuhe anzog, wo der Boden doch gekachelt und somit ziemlich kalt war in der Nacht. Es schien sie jedoch nie zu stören. Sorgsam machte sie ein Essen für ihren Sohn warm, setzte sich zu ihm bis er sich satt gegessen hatte und vermochte erst ins Bett zu gehen, als sie den Teller sorgfältig gespült und weggeräumt hatte. Jede Nacht war es so.
„Das war ganz selbstverständlich, fand ich, dass sie mir nachts um halb drei in der Küche das Essen machte. Ich fand das ganz selbstverständlich. Sie tat das ja immer. Und sie hat nie mehr gesagt als: So spät wieder. Aber das sagte sie jedes Mal. Und ich dachte, das könnte nie aufhören. Es mir so selbstverständlich. Das alles. Es war doch immer so gewesen.“, endete er seine Erzählung.
Seine Augen schien all‘ den Schmerz auszusprechen, den er nicht in Worte zu fassen vermochte. Ich konnte die unausgesprochenen Worte fühlen und wie sich seine Finger in mein Gehäuse krallten, als er weitersprach.
„Und jetzt?“ Er sah die anderen an. Aber fand sie nicht.
Nun wandte er sich mir zu und sprach die Worte aus, die ihm schon die ganze Zeit im Kopf herumzuschwirren schienen und ihn mehr belasteten als alles andere. Hätte ich Augen, so hätte es mir die Tränen hinein- und hinausgetrieben.
„Jetzt, jetzt weiß ich, dass es das Paradies war. Das richtige Paradies.“
Was er nun letztendlich damit gemeint hat, ist mir heute noch unerklärlich. Doch er schien die anderen beiden Personen zum Nachdenken angetrieben zu haben. Ich konnte in ihren Gesichtern eine Art Erkenntnis lesen, die ich jedoch nicht recht einzuordnen wusste.
Das Gespräch schlug um, auf die Familie. Die Frau hatte das Thema angeschnitten.
„Und Ihre Familie?“, hatte sie gefragt.
„Ach, Sie meinen meine Eltern? Ja, die sind auch mit weg. Alles ist weg. Alles, stellen Sie sich das vor. Alles weg.“, hatte er leise geantwortet.
Dann nahm er mich wieder in die Hand, hielt mich auf Augenhöhe fest und lachte mir seltsam ins Gesicht. Ich bekam Angst vor ihm. Doch nicht die Art Angst, in der man davonrennen will, nein. Ich hatte Angst, dass er das alles nicht verkraften würde. Angst, dass auch er mich noch verlassen würde. Mich, den Zeitzeugen dieser Tragödie.
„Nur sie hier. Sie ist übrig. Und das Schönste ist ja, dass sie ausgerechnet um halb drei stehen geblieben ist. Ausgerechnet um halb drei.“
Danach schwieg er und rieb sich über sein alterndes Gesicht. Und der Mann, der neben ihm saß sah auf seine Schuhe. Aber er sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das Wort Paradies. Und ich tat es nicht minder. Auch wenn ich nie zu einer einleuchtenden Lösung gekommen bin, so ist mir doch eins klar geworden: Verlust der Familie schmerzt mehr als der Verlust seiner eigenen Beweglichkeit.

31.08.2015 23:23 • 01.09.2015 #1


M
Sehr schön!

01.09.2015 10:01 • x 1 #2