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Ich mag Erika. Bis letztes Semester haben wir zusammen Philosophie studiert. Ohne sie ist der Seminarraum zu einem Ort geworden, wo zwar immer noch viel Interessantes kommuniziert wird, doch meist reden die Studenten aneinander vorbei. Das Schlimmste ist, dass das kaum jemand stört. Ich habe viele intelligente Menschen kennengelernt. Wie oft musste ich lächeln, weil irgendwo eine geistreiche Bemerkung ganz neue Welten aufzuschließen schien! Ich mag diese Ansammlung junger Menschen, ihren sprühenden Geist und die Beruhigung, die ihre wache Gegenwart mir oft bedeutet. Und dennoch habe ich für die Verrenkungen ihrer jungen Gehirne weit weniger übrig als damals. Viele meiner Kommilitonen erinnern mich an Bodybuilder, deren Muskelspiel die Welt verzückt, aber letztlich zu nichts nütze ist. Nichts ist leichter, als einen geistvollen Menschen durch Geist zu blenden.

Erika ist anders. Sie hat niemanden beeindrucken wollen, weil sie das Urteil der meisten Menschen nicht sonderlich interessiert hat. Immer hoffte sie, einem Menschen zu begegnen, den sie verehren konnte. Nun, dieser Mensch kam nie. Das Gefühl ihrer Überlegenheit versteckte sie nie. Sie suchte nach Widerstand, nach Gegnern, nach guten Gesprächen. Ihre Kommilitonen hätten sie mehr gemocht, wenn sie einfach eine junge, etwas unsichere und darum um so liebenswürdigere Frau gewesen wäre. Ein soziales Wesen, das seine Ehrlichkeit drosselt, um menschlich zumutbar zu bleiben. „Du bist eine schwache Persönlichkeit, darum glorifizierst du mich so maßlos“, sagte sie einmal zu mir. Sie suchte starke Geister und fand Leute wie mich, die sich von ihr faszinieren ließen – und das ärgerte sie.

Mittlerweile weiß ich gar nicht mehr, ob sie tatsächlich in einer eigenen intellektuellen Dimension spielt, oder ob ich sie gnadenlos überhöht habe. Ihre Noten würde ich im besseren Durchschnitt verorten. Sie fand es absurd, einem Dozenten in Form einer schriftlichen Arbeit zu beweisen, dass sie in der Lage war wissenschaftlich zu arbeiten. Erika folgte stramm ihren Interessen, ohne Rücksicht auf Lehrpläne oder ihre Eltern zu nehmen, die bei der feierlichen Verabschiedung ihrer Tochter gerne ein paar Freundentränen in ihre zierlichen Taschentücher geweint hätten. Mit dem Studium Erikas konnten die beiden nie etwas anfangen, doch die Aussicht auf ein perfektes Zeugnis als Beweis dafür, dass Erika das, was immer sie da studiert hatte, glänzend beherrschte, elektrisierte sie.

Doch Erika erklärte ihnen beiläufig, dass sie, nur wenige Monate vor Ende ihres Studiums, mitten in der Arbeit an ihrer Abschlussarbeit über das Sprachspiel bei Wittgenstein, keine Lust mehr auf das Studium habe. Ihre Eltern versuchten sie umzustimmen, doch bei aller Wesensverschiedenheit kannten sie ihre Tochter gut genug, um die Sinnlosigkeit dieser Versuche schnell einzusehen. Wenn Erika etwas nicht will, dann macht sie es nicht. Auch ich war zunächst geschockt. Mir wurde bewusst, wie sehr ich dem Leistungsdenken verhaftet bin. Wenn ich etwas anfange, bringe ich es zu Ende, auch wenn ich mich dafür quälen muss. Es hat mich immer wahnsinnig gemacht, wenn mich Erika auf meine streberhaften Verhaltensweisen aufmerksam gemacht hat. „Zu irgendeinem Zweck musst du doch studiert haben! So kurz vor dem Ziel abzubrechen, ist doch Wahnsinn!“, sagte ich. Doch sie lächelte nur und sagte: „Niemand, der Philosophie studiert, hat ein Ziel, jedenfalls keines, das mit Arbeitsmarktchancen zu tun hätte. Hey, wir Philosophen sind doch gerade deshalb die Coolen, weil wir uns um diesen ökonomischen Kram nicht ängstigen lassen. So habe ich es immer empfunden. Wovor hast du eigentlich Angst?“

Sie wollte lieber unter einem Baum sitzen, meditieren und wieder unter andere Menschen kommen. Erika hatte keinen Ehrgeiz, was ihr Studium anging. „Ab einem gewissen Punkt spürst du, wann es Zeit ist mit etwas aufzuhören“, sagte sie. Schade, dass sie diesen Punkt so kurz vor ihrem Abschluss erreicht hat. Schade – für sie? Oder für mich? Wenn ich zur Bibliothek gehe, finde ich sie manchmal vertieft in Gespräche mit ihrer syrischen Freundin. Erika sieht dann so entspannt aus, so glücklich. Ich grüße die beiden und komme mir dabei wie der größte Idiot vor, weil mich die Fessel des Ehrgeizes dazu zwingt, mich jeden Tag an den Tisch zu setzen und über meiner Abschlussarbeit zu schwitzen. Es werden schlimme Monate werden, das ist mir schon jetzt bewusst. Ich tröste mich mit dem Gedanken, nach dieser Zeit etwas zu haben, auf das ich stolz sein kann. Einen sehr guten Abschluss. Mit Noten, zu denen meine gottbegnadete Freundin nicht fähig gewesen ist. Ich werde mich emotional über Wasser halten mit der Vorstellung, meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt und damit im Leben mit jeder gelungenen Zeilen zu steigern. Der Ernst des Lebens steht auf meiner Seite! Ist das nichts? Und während ich so vor mich hinträume und ungelegte Eier verrechne, kann es gut sein, dass ich Erika begegne, diese schöne junge Frau mit den formal so viel schlechteren Jobchancen. Die Studienabbrecherin, die der Welt nicht zeigen wollte, was sie kann. Vielleicht wird sie unter einem verschwenderisch schönen Sommerhimmel braun werden und Kirschohrringe tragen, die Fatima für sie ausgesucht hat.

Morgen werde ich Erikas Eltern besuchen. Sie können die Entscheidung ihrer Tochter immer noch nicht begreifen. Zu sehen, wie sie den Kopf schütteln, wird mir zwar nicht helfen, Erika zu verstehen. Aber beruhigend dürfte es mich doch. „Du brichst dein Studium aber nicht ab, oder?“, fragt mich Frau Becker vielleicht. „Nein, natürlich nicht.“ Ich fühle jetzt schon, wie sich mein Lächeln in den Mundwinkeln vorbereitet.

21.08.2016 04:07 • 21.08.2016 x 1 #1


G
Tolle Geschichte,die sehr zum Nachdenken anregt...

21.08.2016 05:58 • x 1 #2